Review

Wer sich Shakespeares "Hamlet" vornimmt, ist sich bewußt, daß er es mit dem Text zu tun hat, der gleich nach der Bibel als essentiell für das abendländische kulturelle Selbstverständnis gilt. Das war Regisseur Kenneth Branagh zweifellos klar, und man merkt jeder Minute seiner Verfilmung an, daß hier eine endgültige Version, ein Jahrtausend-Hamlet gestemmt werden sollte. Nicht nur wurde erstmalig der komplett erhaltene Text umgesetzt, sondern auch an Ausstattung und Bildgewalt alles in die Waagschale geworfen, und schließlich die Rollen so besetzt, daß sie zum fast lächerlichen Name-Dropping-Event für jeden Theater- und Kinogänger, aber auch für den Shakespeare-Kenner wird. Es ist die mit Sicherheit teuerste und längste Shakespeare-Produktion aller Zeiten, hier sollte der Fachmann staunen und der Laie sich wundern - hat sich dieser Aufwand gelohnt?

Im klassizistisch-überquellenden 19. Jahrhundert angesiedelt, muß der Zugriff Branaghs auf das Stück - zumindest im Ganzen, auf sein großes Verdienst komme ich weiter unten - als eher überraschungsfrei und konventionell bezeichnet werden. Hier gibt es, wohl angesichts des betriebenen Aufwandes, keinen Raum für gewagte Neuinterpretationen, postmodern-ironisches Augenzwinkern oder inszenatorische Wagnisse. Alles ist bedeutungsschwanger, pastos aufgetragen, donnert und dröhnt, schwere Streicherteppiche liegen unter den Monologen, gegen Ende gibt es sogar Massenszenen, und im Abspann singt niemand Geringeres als Placido Domingo. Gefilmt wurde äußerst aufwendig und unzeitgemäß auf 70-Millimeter-Material, gewissermaßen auf dem royalen Zelluloid für erlesenste Stoffe und die größten Leinwände, auf ihm kommen die perfekten Kostüme, riesigen Schloßanlagen und verschwenderisch ausgestatteten Innenszenarios voll zur Geltung ... Es wird also unmißverständlich klargemacht, daß man die ganze Zeit der weihevollen Zelebrierung eines Kulturgutes beiwohnt.

Diese Haltung setzt sich in der Besetzung fort. Branagh selbst als Hamlet ist sicher eine gute Wahl, er war zum Zeitpunkt des Drehs gerade noch jung genug, auf der Höhe seines Könnens und Shooting Star der britischen Theaterszene. Mit seinen zuletzt vorgelegten Shakespeare-Produktionen und -Verfilmungen hatte er durchweg begeistern können, und so gab es sicher keine Probleme, die Créme der britischen Shakespeare-Darsteller für das von ihm angeschobene Projekt zu verpflichten: Seinen Mentor Derek Jacobi (der selbst als Hamlet reüssiert hatte), die Urgesteine John Gielgud und Judi Dench (wenn auch nur als kurz aufblitzende Reminiszenz), und für das amerikanische Zielpublikum Garanten wie Charlton Heston oder Billy Crystal. Selbst für winzige Nebenrollen waren sich Richard Attenborough, Robin Williams oder Gerard Depardieu nicht zu schade - fraglich, ob dergleichen dem Film nützt oder eher schadet, es schleicht sich der Verdacht auf Promi-Butterfahrt ein.

Das unmittelbarste Problem des Films ist natürlich seine Länge. Vier Stunden für einen Plot, der sich nicht gerade episch durch die Kontinente zieht, sondern vornehmlich im immer gleichen Schloß spielt und in dem obendrein unentwegt gesprochen wird ("Hamlet" ist ausgerechnet Shakespeares Stück mit der größten Textmasse) - vier Stunden also des verbalen Dauerbeschusses sind für jedes Publikum, egal ob im Theater, im Kino oder vor dem heimischen TV, eine Kraftprobe. Ermüdungserscheinungen sind unvermeidbar, die Konzentration kann den anhaltenden elaborierten Wortkaskaden unmöglich folgen. Das ist denn auch der größte Schwachpunkt des Filmes, daß er als eben solcher nicht funktioniert. Aus gutem Grund war bis dato keine "vollständige" Aufführung, weder auf der Bühne noch im Film, verzeichnet, denn etliche Passagen (man denke an die ausgiebige Planung von Hamlets Vergiftung durch Claudius und Laertes) sind für den Handlungsfortgang, so ketzerisch das klingen mag, entbehrlich. Und zeitweise sogar absurd - so ruft Claudius nach der Theateraufführung im vollbeleuchteten Haus nach Fackeln.
Hinzu kommt, daß Branagh als Hamlet quasi durchgehend zu sehen und zu hören ist, und er ist zu sehr Bühnenschauspieler, als daß er durch zurückgenommenes Understatement dem Zuschauer eine Pause von seinen dauerangestrengten Monologen gönnen würde oder könnte. Auffallend ist dies während Hamlets Abwesenheit in England, als sich alle anderen Figuren angenehm im entspannten Spiel entfalten.

Allerdings schafft es Branagh, zumindest einzelnen Figuren neue Facetten abzugewinnen. Beeindruckendstes Beispiel ist sicher Polonius. Wo er sonst nur ein lächerlicher, clownesker alter Mann ist, so wird er hier zum scheinheiligen, heuchlerischen, ja gefährlichen Intriganten. Ophelia (überzeugend: Kate Winslet) fürchtet sich vor ihm, als er sie gewaltsam am Handgelenk packt, auch läßt er sie unbarmherzig aus Hamlets Liebesbrief vorlesen, was ihr nur unter Tränen gelingt (im Original tut er das selbst). Und als er schließlich Order zur Überwachung des tugendhaften (!) Betragens seines Sohnes im Ausland gibt, räkelt sich eine junge Dame, dem Anschein nach eine Prostituierte, im zerwühlten Bett, die er dann mit einem routinierten Fingerschnippen hinausschickt. Derart weltlich, abgefeimt und unkomisch hat man Polonius wohl selten gesehen. Claudius hingegen wird zwar als machtversessen, doch nie zu schurkisch dargestellt: Seine Reue im Beichtstuhl scheint ehrlich, seine Angst vor Hamlets Wahnsinn und der Entschluß, sich seiner in England zu entledigen, nachvollziehbar. Hier gelingt Jacobi eine erwartungsgemäß facettenreiche Darstellung.
Weitere Interpretationsansätze bieten zielgerichtet eingeblendete Bilder zur Untermalung von bestimmten Dialogen. Hierbei wird nicht klar, ob sie widerspiegeln, was wirklich passiert ist, oder ob sie der Einbildung der betreffenden Person entspringen: Hatte Ophelia tatsächlich bereits sexuellen Kontakt mit Hamlet, oder entstammen die Bilder ihrer Phantasie? Stimmt die Geschichte des Hamlet-Geistes vom Vergiften im Garten, von der Untreue der Königin schon zu seinen Lebzeiten?

Was die filmtechnische Umsetzung betrifft, so versucht Branagh, das Bühnenhafte zugleich zu erhalten und auszutreiben. Seine Methode ist der beinahe exzessive Einsatz der Steadycam, die des öfteren drei- bis fünfminütige ungeschnittene Takes von souveräner darstellerischer Qualität präsentiert. Dabei wird in teils sehr komplexer Choreographie der Raum in allen Dimensionen erkundet, die Darsteller werden in den riesigen Hallen des Schlosses umkreist, verfolgt und zurückgelassen, es geht treppauf und treppab. Scheinbar soll alles, was an Statik oder die vierte Wand der Bühne erinnert, möglichst vergessen gemacht werden. Nur in den intimeren Situationen, etwa in Hamlets Studienzimmer, kommt es dann zum konventionellen Schnitt-Gegenschnitt, zu den Höhepunkten (Theateraufführung, Schlußduell) gar zu veritablen Schnittgewittern, denen allerdings zur vollendeten Meisterschaft noch etwas fehlt. - Über mangelnde Dynamik auf der Leinwand kann man sich also nicht beklagen, zumal insbesondere bei der Geistererscheinung des alten Hamlet an (unfreiwillig komischen) Spezialeffekten nicht gespart wird.

Der große Pluspunkt der Branagh-Verfilmung ist allerdings, daß endlich dargestellt ist, was in den (mir bekannten) Hamlet-Umsetzungen vermutlich immer zuerst gekürzt wurde: Die außenpolitische Dimension des Stücks. Diese erfuhr auch in der Shakespeare-Philologie erst in den 90er Jahren eine gewisse Renaissance, und Branagh (oder seine Zuarbeiter) waren so geistesgegenwärtig, diesen Aspekt voll zu integrieren und damit eine zusätzliche, äußerst effektive Bedeutungsebene einzuziehen.
Denn die drohende militärische Präsenz Norwegens und der Kriegswille Fortinbras' zur Wiedereroberung verlorener Gebiete, selbst wenn er dafür seinen Onkel hintergehen muß, bilden die geschichtliche Klammer, ohne die Hamlets kurz vor dem Tod gegebene Zustimmung zu Fortinbras' Aktionismus unverständlich bleibt. Die Spiegelung der Vater-Sohn-Konstellation in beiden Königshäusern, der Verlust des Vaters und die Herrschaft des Onkels markieren verblüffende Gemeinsamkeiten beider Prinzen. Andererseits bildet Fortinbras das Gegenbild zu Hamlet: Während dieser brütend im familiären Konflikt gefangen ist, wird jener aktiv und handelt ohne moralische Bedenken, Männer in den Krieg und in den Tod zu schicken. Gleichzeitig kristallisiert sich das Erbfolgeproblem im dänischen Haus heraus: Hamlet wurde durch Claudius' Heirat mit der Mutter um seine Thronfolge betrogen, und selbst Norwegen scheint sich auf alte Rechte berufen zu können, wie Fortinbras am Ende zu seiner Krönung erklärt.
Nur mit Hilfe dieser ganz realen, geopolitischen Dimension wird sonnenklar, warum die Geschichte ins 19. Jahrhundert verlegt wurde: Nicht wegen der pittoresken Optik, sondern weil es das Jahrhundert der Realpolitik, das Jahrhundert Clausewitz' und der Siegeszüge der effektiven preußischen Armee war. Nicht umsonst tragen die norwegischen Truppen bei Branagh Feldgrau, während die dänischen Soldaten und Offiziere mit bunten und kriegsuntauglichen Phantasieuniformen ausgestattet sind. Nicht umsonst zeigt der zurückgekehrte Laertes mit seinem Volksaufstand, wie instabil und "faul" der Staat Dänemark tatsächlich ist (der Spiegelsaal, in dem ein Großteil der Innenszenen spielt, mag hier als Sinnbild der fruchtlosen Selbstreflexion dienen). Und nicht umsonst wird schlußendlich das Standbild des alten Hamlet zerschlagen und damit an den Ikonoklasmus im Zuge des Ostblock-Zusammenbruchs gemahnt: Hier hört ein Zeitalter auf und ein neues beginnt. Und in gewisser Weise hält auch ein neues, aufgeklärtes Weltbild Einzug, das mit Geisterglauben und melancholischer Brüterei aufräumt, um zweckrationalem Denken Vorrang zu geben.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Wenn man den Hochglanzpolitur-Charakter dieses "Hamlet" hinnimmt, mit den oben erwähnten Mängeln und Problemen, dann hat man eben so eine Art Daimler unter den Hamlet-Verfilmungen - groß, breit, perfekt in Design und Funktion. Deswegen ist es trotzdem keine "definitive" oder "endgültige" Verfilmung; die Länge ist nach wie vor abschreckend und ungetrübtem Genuß nicht zuträglich. Ich jedenfalls freue mich auf den nächsten größeren oder kleineren Versuch, es gibt schließlich nicht nur Kenneth Branagh da draußen, obwohl es einige Jahre ganz so aussehen wollte. 

Details
Ähnliche Filme