" Was Film heißt, kann nicht erzählt werden. Aber mach' einer von uns das mal den Leuten klar, verdorben wie sie sind durch an die dreißig Jahrhunderte Geschwätz: Lyrik, Theater, Roman... Man müßte ihnen den Blick von Wilden wiedergeben oder den von Kindern."
René Clairs radikale Äusserung entstammten noch den Worten des jungen Filmkritikers, bevor er mit "Paris qui dort" seinen ersten Film drehte. Wie ernst er diese meinte, wird in "Paris qui dort" schnell deutlich, denn alles wirkt hier spielerisch und frei von Konventionen.
Im Zentrum des Geschehens steht der Eiffelturm - damals noch das höchste Gebäude der Welt - der hier zum Einen wie ein Symbol des Fortschritts wirkt, aber auch wie die Umsetzung des menschlichen Spieltriebs - schneller, höher, weiter. Ähnlich verfährt Clair mit der Kamera, deren Möglichkeiten er mit Lust ausschöpft. Weite Blicke über die Stadt Paris werden abgelöst durch Details des Eiffelturms, dessen Stahlkonstruktion in schönsten Aufnahmen zelebriert werden, mal wird das Tempo der Bilder beschleunigt, dann wird das Bild einfach gestoppt.
Dieser lustvolle Umgang wird geschickt in eine Story eingebettet, deren fantasievolle Konzeption an zeitgenössische Science-Fiction Szenarios erinnert, wie zuletzt in "I am Legend". Nur nutzt Clair diese radikaler, in moralischer Hinsicht konsequenter und vor allem amüsanter. Als Albert (Henri Rollan), der als Nachtwächter auf dem Eiffelturm arbeitet, am späten Vormittag erwacht, traut er seinen Augen nicht. Paris steht still. Die wenigen Menschen, die er antrifft, sind in ihrer letzten Bewegung verharrt, und befinden sich in einer Art Dornröschen-Schlaf. Dieser scheint mitten in der Nacht über die Stadt gekommen zu sein, was erklärt, warum fast alle Strassen und Plätze menschenleer sind.
Parallel zu Alberts unglaublichen Entdeckungen, landet ein Flugzeug am Pariser Flughafen Orly. Der Pilot und seine 5 Insassen, darunter eine Frau, sind nicht weniger erstaunt, als sie das Flughafenpersonal regungslos antreffen. Sie nehmen sich einfach eines der am Strassenrand stehenden Autos, schieben den Fahrer zur Seite und fahren in die Stadt. Dort bemerkt sie Albert, holt sie ein und sie beginnen gemeinsam die Stadt zu entdecken. Einige Szenen, wie das gemeinsame Bad im Brunnen, wurde in späteren Filmen zitiert, aber René Clair bleibt seine Zielsetzung treu und vermeidet jeden ernsthaften Gestus. Stattdessen lässt er die Erwachsenen wie ausgelassene Kinder agieren, die Paris für sich alleine haben.
Anders als spätere Werke, die immer einen gesellschaftkritischen Kontext brauchen, um das Szenario glaubwürdig wirken zu lassen, kümmert sich Clair gar nicht darum. Für ihn ist Paris hier die Welt und als Begründung für die Ereignisse verwendet er schon die beste dafür zur Verfügung stehende Figur - den "Mad Scientist" - ein Prototyp des Homo Ludens. Selbst die wenigen ernsten Szenen, als die sechs Personen vor Langeweile beginnen, sich zu streiten, während sie waghalsig auf dem Eiffelturm herumklettern (was zu wunderschönen Aufnahmen führt), haben mehr den Charakter von Kinderkabbeleien, was René Clair noch damit betont, dass er das Filmtempo beschleunigt.
Köstlich sind auch die Szenen, wenn ständig Jemand die Maschine mit den geheimnisvollen Strahlen bedient, die Paris in Schlaf versetzen, und das Leben in Paris ein stakkatoartiges Tempo bekommt, was für die Protagonisten zu teils überraschenden Konsequenzen führt. Seiner auch moralisch unkonventionellen Linie bleibt Renè Clair bis zum Schluss seines 34 minütigen Films treu, der problemlos eine gesamte Spielfilmhandlung in diesem Zeitraum unterbekommt und nicht wie ein Kurzfilm wirkt. Wenn zum Schluss Albert den Arm um die Tochter des verrückten Wissenschaftlers legt, hat er schon eine andere Affäre hinter sich, fremdes Geld verprasst und gestohlenen Schmuck verschenkt, hat sich geprügelt, wurde verhaftet und war in der Irrenanstalt - so viel Spass muss sich einfach auf den Betrachter übertragen (9/10).