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Ruft man sich diverse Mafia-Filme in Erinnerung, entstehen Bilder voller schöner Frauen, dicker Geldbündel, Luxusfeiern und Protzautos vor dem geistigen Auge. Wenn das Ganze nicht auf verbrecherischen Strukturen aufgebaut wäre, weshalb eine große Anzahl von Opfern für diesen Reichtum aufkommen musste, und wenn es nicht die "strengen Regeln" gäbe, die selbst des Patens Lieblingssohn schnell tödlich ereilen könnten, könnte man durchaus den Spass an der Sache nachempfinden. Es existieren sogar Thesen, die besagen, dass die Mafia in einigen infrastrukturell schwachen Gebieten zu den wichtigsten Arbeitgebern gehört und damit erst ein funktionierendes Leben garantieren.

Diese Faszination gehört zu den wichtigsten Überlebensstrategien der Camorra, weshalb kritische Filme, die die ständige Gewalt und Todesgefahr sowie die Einflussnahme bis zu höchsten Ämtern geisselten, die Mafia kaum aus der Ruhe brachten. Anders erging es dem jungen Autor Roberto Saviano, der nach seinem Buch, dass diesem Film zugrunde liegt, unter ständigen Polizeischutz gestellt wurde, obwohl er nur einen kleinen Randbezirk von Neapel innerhalb eines heruntergekommenen Wohnblocks beschreibt - ohne jede glitzernde Scheinwelt.

Der Film, an dessen Drehbuch er mitwirkte, behält seinen dokumentarischen Stil konsequent bei und verzichtet auf jede filmtechnische Übertreibung. Er erzählt fünf Handlungsstränge, die - obwohl sie sich alle innerhalb eines begrenzten Raumes ereignen - nur in zwei Fällen kreuzen. Entsprechend langsam findet der Betrachter in die Handlung, denn der Film erklärt keine Zusammenhänge, beschäftigt sich nicht mit einem schlüssigen Spannungsaufbau, sondern beschreibt Ereignisse, die auf unterschiedliche Höhepunkte zulaufen. Die Konsequenzen, die sich für die einzelnen Personen ergeben , kristallisieren sich letztlich nur aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Handlungen heraus, denn keiner kann sich dem Gesetz der Camorra entziehen. Die zunehmende Spannung entsteht aus dem sich steigernden Gefühl der Ausweglosigkeit, die den Betrachter beschleicht.

Was "Gomorra" aber von allen üblichen Mafia-Filmen unterscheidet, ist die Zerstörung jeglicher Faszination. Selbst die sogenannten Anführer laufen mit Schlabberklamotten in abgewrackten Räumlichkeiten herum, auch wenn sie konspirativ in bekannter Manier über irgendwelche kleinen Mitläufer richten. Das meiste Geld scheint in den Waffen zu stecken, die massenweise zur Verfügung stehen. Dagegen müssen sich die Verwandten von inhaftierten Mafiamitgliedern mit Almosen begnügen, die ihnen ein völlig verängstigter Bote, der bei allen in der Kritik steht, monatlich überreicht. Hinzu kommt noch, dass es zwei miteinander verfeindete Clans gibt, die sehr genau darauf achten, wer zu ihnen gehört. Schon leichteste Inkonsequenten oder die falsche Ortwahl bedeuten konkrete Lebensgefahr.

"Gomorra" räumt mit der Illusion auf, dass es sich bei der Mafia um ein funktionierendes Konstrukt handelt, dass - besser als der Staat - auch für die "kleinen Leute" da ist. Wie in einer grossen Familie. Der Staat oder seine Repräsentanten tauchen in diesem Film in ihrer Hilflosigkeit kaum auf, aber darin liegt nicht die eigentliche Problematik, sondern das die mafiösen Strukturen alles lähmen. Die Personen, die "Gomorra" in den Mittelpunkt stellt, sind einfache Leute - junge Männer, die noch die coolen Filmzitate im Kopf haben, und mit Waffen spielen, Facharbeiter, die unangemessen wenig verdienen oder eben der alternde Kurier, der das Geld der "Familie" verteilt. Sie alle leben in einem Umfeld, dass längst zerstört wurde und optisch stark an Bilder aus der sogenannten "Dritten Welt" erinnert.

Der Film macht deutlich, dass die Mafia Hoffnungslosigkeit und Zerstörung bedeutet, und er lässt keinen Moment erkennen, dass es aus diesem Strudel des Niedergangs einen Ausweg gäbe. Die Faszination von "Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra" entsteht aus der Vermeidung filmischer Anbiederei an das Publikum. Er tritt gestalterisch nicht aus der beschriebenen Situation heraus, weshalb auch das Ansehen keinerlei Vergnügen bereitet (8,5/10).

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