Gus van Sant nimmt den Ausgang der Story vorweg, indem er gleich zu Beginn den Tod von Harvey Milk (Sean Penn) verkünden lässt, der seinen Schussverletzungen erlegen ist. Dann beginnt er ganz chronologisch dessen Leben nachzuerzählen - die Zeiten als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft, während der er seine homosexuellen Neigungen noch verheimlicht, die Begegnung mit Scott Smith (James Franco), seiner großen Liebe, am Tag vor seinem 40.Geburtstag, der Umzug nach San Francisco, wo ein ganzer Straßenzug zur Heimstatt für alle Homosexuellen wird und daraus folgernd sein zunehmendes Engagement für Bürgerrechte, das ihm den Weg in die Politik ebnet.
Das Harvey Milk als erster sich zur Homosexualität bekennender Politiker in ein öffentliches Amt gewählt wurde, war sicherlich ein wichtiger Schritt zur Akzeptanz homosexueller Menschen in der Öffentlichkeit. Nur der Fakt, das Van Sant dessen Geschichte ein persönliches Anliegen war und Milk eine höhere Bekanntheit verdient hat, genügt nicht als Intention für diesen Film. Auffällig ist die unspektakuläre Gestaltung und die emotional zurückhaltende Art, Milks Geschichte zu erzählen, die nicht einmal in den wenigen dramatischen Momenten (wenn es zum Beispiel zu körperlichen Übergriffen auf Schwule kommt) auf die emotionale Tube drückt. Stattdessen ist dem Film in jeder Sekunde anzumerken, wie normal und geradezu alltäglich er die Geschichte eines Politikers erzählt, dessen Werdegang sich von vielen anderen Politkarrieren kaum unterscheiden wird, wenn man einmal von der Thematik der Homosexualität absieht.
Darin liegt die größte Leistung in Penns Spiel, hier einen Menschen charakterlich zu entwickeln, dem weder Machtinteressen noch Opportunismus fremd sind. Gleichzeitig verkörpert er ehrliches Interesse und die sprachliche Fähigkeit, Mitstreiter zu gewinnen und zu motivieren - ein Umstand, ohne den eine Politikerkarriere abseits vom Protektionismus nicht möglich wäre. Während er sich zu Beginn hauptsächlich den Interessen der Schwulen widmet, begreift er, dass er ein politisches Amt nur erreichen kann, wenn er eine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich bekommt. Er wird zum Politiker für alle Bürger.
Die eigentliche Dramatik, die der Film schildert, liegt in dem Konflikt, einerseits sexuelle Neigungen - welcher Art auch immer - als Privatsache betrachten zu wollen, um eine Mehrheit der Bevölkerung vertreten zu können, andererseits seine Wurzeln nicht verleugnen zu dürfen, da man ohne deren Unterstützung niemals in diese Position gelangt wäre. Daran scheitert Harvey Milk letztendlich oder genauer - seine Umgebung. Während die Auseinandersetzung mit dem rechtskonservativen Senator John Briggs (Denis O'Hare), der Homosexualität als Krankheit verteufelt, in ihrer Klarheit trotz aller Anfeindungen für Harvey Milk genau das Umfeld darstellt, in dem er sich profilieren kann, birgt die Auseinandersetzung mit dem Amtskollegen Dan White (Josh Brolin) in ihrer Alltäglichkeit die eigentliche Gefahr.
Josh Brolins Leistung steht der Penns in nichts nach, denn ihm gelingt das Bild eines Menschen der zwischen angelerntem Konservativismus und der Faszination für die gerade stattfindenden gesellschaftlichen Veränderungen zunehmend verunsichert. In einem kurzen Moment ist die gegenseitige Anziehungskraft zwischen den beiden Politikern, die unterschiedliche Lager vertreten, zu spüren, aber es ist Milk, der seinen größeren Einfluss nutzt, den Kollegen auszustechen. Gus Van Sant verdeutlicht, dass gerade die Nähe, die zwischen ihnen entsteht, erst den Konflikt hervorruft. Dan White kann irgendwann nicht mehr zwischen einer normalen politischen Niederlage und den durch Milks aussergewöhnliche Rolle geschürten Emotionen unterscheiden. Und genau hier setzt "Milk" an.
Der Film will keine exaltierte Besonderheit der Zeitgeschichte aus den wilden 70er Jahren darstellen, sondern einen Schritt zur Normalität schildern. Obwohl er keine Details auslässt, bleibt er auch in den Ereignissen, die Milk privat widerfahren, von erfrischender Nachvollziehbarkeit. Seine langjährige Beziehung scheitert an der typischen Vernachlässigung des beruflich Überbeschäftigten wie er sich auch mit den Eifersüchteleien eines jungen Liebhabers herumschlagen muss. Milk ist letztlich ebenso unfähig, Beziehungen zu führen wie viele andere Menschen in vergleichbaren Positionen, auch wenn nicht alle ähnlich tragische Konsequenzen erleben.
Ganz klar, "Milk" ist ein schwuler Film, aber sein Verdienst liegt darin, dass er am Ende zu Tränen rührt angesichts der dramatischen Ereignisse und es Einem herzlich egal ist, ob dieser Harvey Milk nun schwul ist oder nicht (9/10).