Review

Achtung: Diese Review enthält leichte SPOILER!

Das Chinesische Kino erlebte Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts seine Blütezeit, als sich die Filmemacher der sog. 5. Generation mit ihren sowohl inhaltlich-narrativ als auch formalästhetisch innovativen Filmen unter Arthouse-Fans aus aller Welt einen Namen machten. Der bekannteste Vertreter der 5. Generation ist der aus Xi’an stammende, heute weltberühmte Regisseur Zhang Yimou.

Schon in seinem Regiedebüt „Rotes Kornfeld“ von 1987 wurde das Publikum Zeuge von Zhangs unvergleichlichem künstlerischen Stil, seinem Gespür für den gezielten Einsatz kräftiger Farben - Filmtheoretiker bedachten seine kraftvolle Bildsprache respektvoll mit dem neuen Ausdruck „Farbdramaturgie“ - sowie seinem Mut, dunkle Kapitel der jüngeren chinesischen Geschichte, die bis dato auf der Leinwand tabu waren, in seinen Filmen zu thematisieren und zu kritisieren. Im Jahre 1991 realisierte er nach dem Roman „Wives and concubines“ (OT: Qiqie chengqun) von Su Tong seinen vierten, bislang kritischsten und im Ausland bekanntesten Film „Die Rote Laterne“.

Die gesamte Handlung spielt sich im an einem isolierten Ort gelegenen, von der Außenwelt vollkommen abgeschotteten Palast des Hausherren Chen Zuoqian (Ma Jingwu) ab. Hinter den Mauern dieser hermetischen abgeriegelten Umgebung verbirgt sich der Makrokosmos der chinesischen Gesellschaft. Die Unantastbarkeit des allmächtigen, gesichtslosen Hausherren erinnert dabei sowohl an die früheren chinesischen Kaiser, die sich, hinter undurchdringlichen Mauern verborgen, zu unangreifbaren Mythen stilisierten, als auch an den noch bis heute vorhandenen Herrschaftsapparat der Kommunistischen Partei, deren oftmals gesichtslose, im Hintergrund agierende Führer ihre Legitimation aus einer uralten, traditionellen, auf konfuzianischen Dogmen beruhenden Ideologie ziehen und - mit Ausnahme der allerhöchsten Regierungsebene - sich hinter dieser „Mauer“ verstecken. Die anderen Filmfiguren, die drei Ehefrauen des Hausherren und seine Diener, repräsentieren die gebeutelte chinesische Gesellschaft, die zu identitäts- und willenlosen Sklaven des Hausherren degradiert werden, zugleich aber aufgrund ihrer opportunistischen Haltung dessen Herrschaft anerkennen und aufrecht erhalten.

In diese von kalten Steinmauern umriegelte Welt tritt die Protagonistin Songlian (Gong Li) ein. Aus Geldmangel muss sie ihr Studium beenden und geht eine Zwangsheirat mit dem reichen Chen Zuoqian an. Von da an ist sie die vierte Ehefrau des Hausherren. Songlian repräsentiert anfangs den lebendigen Geist der Freidenkenden, doch schon ihr Einzug in den Palast, als sie von draußen - aus der Freiheit - durch eine schier endlose Anzahl immer enger werdender Gänge in das ausweglose Steinlabyrinth eintritt, deutet auf ihre psychische Gefangenheit und den Verlust ihrer geistigen Unabhängigkeit hin. Sofort werden Erinnerungen wach an die Rolle der Frau in der chinesischen Gesellschaft seit Beginn der Kaiserreiche bis in die späten 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als das schwächere, unterdrückte Geschlecht ohne jegliches Recht auf Selbstbestimmung. Gleichzeitig wird dem Zuschauer der Hass des großen Vorsitzenden Mao Tse-tung auf die Gebildeten und Intellektuellen und deren Untergang vermittelt, die in Gestalt der Studentin Songlian hinter den Mauern des kommunistischen Palastes nicht nur das Ende ihres psychischen Schaffens, sondern auch das Ende ihres physischen Daseins erleben werden.

Die Handlung gliedert sich in vier Akte, die jeweils mit einer Jahreszeit gekennzeichnet werden. Sie beginnt mit dem Akt „Sommer“. Die symmetrische Architektur des Palastinnenhofes lässt dem Zuschauer keinen Über- oder Durchblick auf/in das intransparente System dieses Herrschaftsapparates - dieselbe Intransparenz innerhalb des Regierungsapparates und die damit verbundene weit verbreitete Korruption beklagen viele Chinesen noch heute. Die Handlungen der Menschen im Hof verlaufen wie nach einem mechanischen Uhrwerk. Die Menschen verrichten ihre Aufgaben und Pflichten, darüber hinaus hat ihre Existenz jedoch keinerlei Bedeutung. Als roboterähnliche Wesen werden sie zu Statuen und Instrumenten eines traditionellen Systems degradiert, das jegliche Menschlichkeit vermissen lässt und jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren zu haben scheint. Kein Zeichen von Leben und Natur durchbricht diese morbide Atmosphäre, nicht ein Sonnenstrahl findet im sonst extrem heißen und sonnigen Sommer in China den Weg durch die alles umschließenden Palastmauern. Unterstrichen wird diese Starre durch eine nahezu statische Kamera. Wenige Kamerafahrten, dafür viele lange, ruhige und statische Einstellungen verstärken das Gefühl der Eintönigkeit und Ausweglosigkeit.

Nach ihrem Einzug wird Songlian den anderen drei Ehefrauen vorgestellt und bekommt die junge Yan’er (Kong Lin) als Dienerin zugeteilt. Anschließend wird sie in die Riten des Hauses eingeführt. Jede der vier Ehefrauen hat ihren eigenen Innenhof. Der Ehefrau, mit der der Hausherr die Nacht verbringen wird, wird im Innenhof eine rote Laterne aufgehängt – ein Ritual, das nicht nur in der Realität an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist, sondern dessen Ursprung und Sinn auch im Film niemand mehr kennt. Selbiges trifft auf die gesellschaftlichen Strukturen zu, deren Sinn ebenfalls niemand kennt, deren Existenz jedoch von allen klaglos hingenommen wird. Verständlicherweise erhält die neue Ehefrau in der ersten Nacht die Gunst des Gatten. Indem Songlian gleichmütig und fast schon in lethargischer Ergebenheit auf ihren Gatten wartet, bezeugt sie die Willen- und Perspektivlosigkeit der Menschen und die vollkommene Unterwürfigkeit gegenüber ihrem kaiserlichen oder kommunistischen Herrscher. Vom zweiten Tag an ist sie nur noch eine von vier Ehefrauen und muss fortan mit ihren Artsgenössinnen - in diesem Ausdruck manifestiert sich auch die Identitätslosigkeit sowie die Austauschbarkeit eines jeden Menschen in der Gesellschaft - um die Gunst des Herren konkurrieren. Doch dieser Kampf bedeutet für die jeweilige Siegerin nichts anderes als den Verlust der eigenen Identität und bedingungslose Anpassung an das System und macht sie zur Opportunistin schlechthin.

Songlians Dienerin Yan’er träumt vergeblich davon, in den Kreis der Ehefrauen aufgenommen zu werden und auf diese Weise in der Gunst des Herren aufzusteigen. Sie bekennt sich offen zur Feindschaft mit Songlian, die Yan’er darum beneidet, dass sie von draußen direkt in den Kreis der Ehefrauen aufgestiegen ist. Da Yan’er jedoch als Dienerin geboren ist und ihr die starren Traditionen keine Aufstiegsmöglichkeiten ermöglichen, hängt sie rote Laternen in ihrer verborgenen Kammer auf, um sich zumindest in ihrer Traumwelt ein Dasein als Ehefrau des Herren ausmalen zu können. Als Songlian die mit roten Laternen beschmückte Kammer entdeckt, lässt sie Yan’er auffliegen. Diese wird daraufhin mit dem physischen Tod bestraft, erlangt damit jedoch schließlich die Freiheit aus diesem frauen- wie menschenunwürdigen System. Der Tod als Weg in die Freiheit – genauso wurden in China die Revolutionäre als Helden gefeiert, die sich für die „Freiheit“ des chinesischen Volkes geopfert haben. Doch die Freiheit hat weder in der Realität, noch in diesem Film etwas an der Unterdrückung der Gesellschaft durch die eigene Regierung geändert. Das Leben im Palast geht weiter, als sei nichts passiert.

Der Kampf zwischen den vier Ehefrauen setzt sich weiter fort. Die 1. Ehefrau (Jin Shuyuan), die vor Jahren in den Palast kam, hat den eigentlichen Kampf bereits vor Jahren gewonnen, und damit schon hinter sich. Sie hat sich inzwischen zur Opportunistin gewandelt, ihre Identität abgelegt und sorgt nun im Palast für Ordnung. Die 2. Ehefrau Zhouyun (Cao Cuifen) ist die hinterhältigste von allen und spinnt im Hintergrund Intrigen, um ihren Konkurrentinnen zu schaden. Durch ihre Intrigen erleiden sowohl die 3. Ehefrau (He Saifei) als auch Songlian, die inzwischen die Realität erkannt und eine rebellische Wandlung durchgemacht haben, schließlich - nicht ganz unfreiwillig - den Tod. Über beide Ehefrauen hat die 1. Ehefrau als Ordnungshüterin gerichtet. Die 1. Ehefrau hat jedoch nicht gewonnen, weil sie bereits keine Identität und damit keinen eigenen Willen mehr hat. Die 2. Ehefrau wirkt auf den ersten Blick wie die einsame Siegerin, doch in der Zwischenzeit sind die Akte Herbst, der besonders lange, in träge und dunkle Farben getauchte Winter als Symbol des Todes, sowie der Frühling vorüber. Mit der Wiederkehr des Sommers erwartet der Palast nun eine fünfte Ehefrau, in Zukunft noch eine sechste Ehefrau usw. Der Kampf beginnt für die 2. Ehefrau also immer wieder aufs Neue. Überdies suggeriert die Einteilung der Handlung in Jahreszeiten den zyklischen, immer wiederkehrenden Verlauf der Handlung und damit die Festgefahrenheit und Ausweglosigkeit dieses totalitären Herrschaftssystems, in dem das Volk entweder als geist- und identitätslose Wesen ein sinnloses Dasein fristet oder im Falle von Auflehnung oder Rebellion gegen das System den Tod erleidet. Die einzigen wahren Nutznießer dieses Systems sind und bleiben die Herrschenden.

Mit diesem Film stellt Zhang Yimou nicht nur seinen Mut, ein historisch und politisch brisantes Thema zu behandeln, sondern auch sein Können als Filmkünstler eindrucksvoll unter Beweis. Selten zuvor hat es ein Regisseur so gut verstanden, durch Kombination und Verdichtung von inhaltlicher Dramatik und visueller Ästhetik eine dermaßen facettenreiche Bildsprache voller tiefgründiger Symbole und Metaphern zu entwickeln, dass jede einzelne Szene dem Kunstcharakter des Filmes Respekt zollt. Inhaltliche Aussagekraft und ästhetische Gestaltung sind bei ihm keine sich ausschließenden Vorsätze, zwischen denen es im Zweifelsfall kompromissartig abzuwägen gilt. Bei ihm harmonieren sie perfekt zusammen, verschmelzen nahtlos ineinander. Dazu muss alles stimmen, auch die ihm vorschwebende Location, die außerhalb Hollywoods nicht einfach durch einen künstlich erschaffenen Set ersetzt werden kann, denn trotz bescheidenem Budget stellte er bereits in der Planungsphase klar, dass nur ein ummauerter Palast ohne sichtbare Sonneneinstrahlung - eine Metapher für das von der Außenwelt isolierte chinesische Reich - als Location tauglich wäre. Hätte die Crew diesen Palast nicht erspäht, hätte der Film wohl mangels Budget für den Bau eines entsprechenden Palastes nicht gedreht werden können.

„Die Rote Laterne“ ist als Spiegel der Realität in China gegenwärtig so relevant wie zur Zeit ihrer Entstehung. Besonders brisant wird diese gesellschaftskritische Studie durch seine eindeutigen Parallelen zur Herrschaft unter dem Vorsitzenden Mao und der kommunistischen Partei. So wie der Hausherr im Film hat auch Mao das Volk seiner Identität beraubt, dieses Vakuum mit veralteten Ideologien gefüllt, deren einziger Zweck die Legitimation und Aufrechterhaltung seiner Macht war. Auf diese Weise versetzten die Herrscher die haltlosen Menschen in einen Zustand von Abhängigkeit. Aus den Menschen wurden willenlose, opportunistische Instrumente, deren einziges Lebensziel darin bestand, bei ihren allmächtigen Herrschern, in deren Händen sie ihr Schicksal gelegt haben, nicht in Ungnade zu fallen. Menschen wurden von klein auf dazu erzogen, sich einen Platz und Anerkennung in der von der Herrschaftspartei repräsentierten Gesellschaft zu erkämpfen. In diesem Zusammenhang liegt die sozio-politische Brisanz dieses Filmes. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass „Die Rote Laterne“ von der kommunistischen Partei in China verboten wurde, bis Zhang Yimou im darauf folgenden Jahr mit dem von der Regierung begrüßten und vielfach gelobten Film „Die Geschichte der Qiu-Ju“ drehte und eine Aufhebung des Verbots erwirkte.

Details
Ähnliche Filme