Review

Im Laufe der 50er und frühen 60er Jahre verlor der italienische Neorealismus spürbar an Bedeutung bzw. verloren seine Vertreter allmählich das Interesse an ihm. Visconti wandte sich 1954 dem Historienfilm zu und drehte mit "Senso" ein opulent ausgestattetes Drama, Antonioni wandte sich nach "Il Grido" (1957) der gehobenen Gesellschaft zu um eine innere Leere zu präsentieren, die diejenigen überkommt die keine materiellen Sorgen haben müssen, Rossellini lernte die Bergmann kennen und wandelt sein Neorealismus-Konzept in "Viaggio in Italia" (1953) in ein Beziehungsdrama um und auch Fellini - einst Drehbuchautor bei Rossellinis "Roma, città aperta" (1945) - entfernte sich vom Neorealismus, dem er als Regisseur ohnehin nur begrenzt nahestand. In "La dolce Vita" (1959) waren noch entsprechende Ansätze spürbar wenn Mastroianni auf untere Gesellschaftsschichten stieß, ansonsten schlug Fellini nahezu den Weg von Antonioni ein - wo dieser jedoch in erster Linie Stille und Tristesse zeichnete, entfesselte Fellini eher ein Fest aus zielloser Vergnügungssucht, bei dem Sinnlosigkeit und Entfremdung als treibende Kraft jedoch immer spürbar blieben.
Mit "Otto e mezzo" konzentrierte er sich dann vollkommen auf das verworrene Innenleben des Protagonisten, dessen Sichtweise bisweilen übernommen, und dessen Alb- und Tagträume, dessen Erinnerungen und Befürchtungen allesamt visualisiert werden.

Das Thema des Films resultierte aus einer Krise Fellinis, dem zunächst kein Stoff einfallen mochte und der nach den teilweise vernichtenden Kritiken seines Beitrags für "Boccaccio '70" (1962) darauf bedacht war, nicht einen zweiten Ausrutscher in Folge abzuliefern.
Daraus resultierte die Geschichte [Achtung: Spoiler!] eines innerlich zerrütteten Regisseurs, der Erholung im Kuraufenthalt sucht, wo er sein neues Projekt vorbereitet. Doch gleich mehrere Umstände erschweren ihm den Alltag zunehmend: Die Anwesenheit einer ihn nur oberflächlich befriedigenden Geliebten, ratsuchende Freunde, ein drängender Produzent, Zweifel an seinem Projekt, das ihm mehr und mehr entgleitet (kostenspielige Sets sind längst errichtet, deren Nutzen er mittlerweile nicht mehr sehen kann), neugierige Reporter, ein vernichtender Kritiker, der das Drehbuch beäugt, und Schauspielerinnen, die endlich etwas über ihre Rollen erfahren möchten. Als schließlich noch seine Frau mit seiner Schwester eintrifft und die große Beziehungskrise unausweichlich ist, scheint er seinen seelischen Tiefpunkt erreicht zu haben.
Die autobiographischen Aspekte deutet Fellini selbst bereits im Titel an: Nach einer Co-Regie-Arbeit, zwei Episodenfilmbeiträgen und 6 Spielfilmen ist "Otto e mezzo" nach Fellinis Zählung Werk Nr. 8 1/2.
Und gegen erneute schlechte Kritik schützt sich Fellini gleich durch einen offensiven Schritt nach vorne: Guido Anselmi (Marcello Mastroianni), der Regisseur, dreht offenbar ein ganz ähnlich Projekt wie es Fellini hiermit getan hat, und der intellektuelle Kritiker bringt im Film selbst schon alle negativen Kritiken vor, die man dem Projekt machen könnte: nichtssagene Nostalgie, episodenhafte Aneinanderreihung etc.
Die Fülle an emotional höchst verschiedenen, aber immer treffsicheren Szenen, weisen diese Kritikpunkte weit von sich: aus den bedrückenden, befreienden, zornigen, traurigen Episoden erwächst ein Wechselbad der Gefühle, das eine höchst differenzierte Charakterzeichnung abliefert und das die episodenhaft gegliederte Nostalgie ganz bewusst in Kauf nimmt und dabei fragt, was daran so schlimm sein soll. (Ganz davon abgesehen lässt Anselmi seinen aufdringlichen kritiker in einer Tagtraumsequenz per Fingerschnippen kurzerhand aufhängen.)

Zugleich konzentriert sich der Film trotz aller Sprünge auf zentrale Themen (die innerhalb Fellinis Filmen auch ein zentrales Thema bleiben sollten): So attackiert er hier überdeutlich eine streng katholische Erziehung, die mit Demütigungen und dem Erzeugen von Schuldgefühlen lebenslange Folgen hinterlässt (später wiederholt er seine Kritik am Katholizismus in "Giulietta degli spiriti" (1965) oder "Roma" (1972)), stellt die Frage nach der Bedeutung von Liebe und Sexualität und den Überschneidungen und Unterschieden davon (was später in "Fellini - Satyricon" (1969), "Il Casanova di Federico Fellini" (1976) oder "La città delle donne" (1980) auch Thema sein sollte, wie es auch schon zuvor bereits Thema war), und thematisiert künstlerischen Schaffensdrang und Hindernisse und Schwierigkeiten im Filmgeschäft (wie später in "Fellini: A Director's Notebook" (1969) oder "Intervista" (1987)).

Was neben dem durchaus vorhandenen hohem Niveau und der emotionalen Dichte noch für den Erfolg des Filmes verantwortlich ist, ist die überragende, innovative Gestaltung und Strukturierung des Ganzen.
Fellini folgt seinem Alter Ego Anselmi durchgehend, beginnt und beendet das Werk gar mit dessen Träumereien:
Am Anfang steckt Anselmi in seinem stickigen Auto fest, mitten in einem Stau - er klettert hektisch durch das Wagendach, fliegt davon, nur um letztlich zum Absturz gebracht zu werden. Eine Hand greift zu einem gellenden Schrei ins bild, Anselmi erwacht in seinem Kurort, mit schweren Augenringen und sichtlich erschöpft.
Immer wieder werden solche Träume, Erinnerungen und Visionen präsentiert: Die junge Schauspielerin Claudia (Claudia Cardinale) erscheint ihm mehrfach in strahlender Reinheit als Vision, assoziativ ausgelöste Erinnerungen an erste sexuelle Erfahrungen schieben sich in das Geschehen, und nach und nach kippt die Handlung bisweilen unmerklich - manchmal gar ohne Schnitt - um in die Visualisierung absurder Befürchtungen und diffuser Beklemmung.
Höhepunkte sind sicherlich der zermürbende Sauna-Aufenthalt, die katastrophale Pressekonferenz, vom Produzenten als Druckmittel und Motivation veranlasst, obwohl Anselmi nichts zu sagen hat und sich in den erträumten Selbstmord flüchtet, oder der bekannte, vielfach angesprochene Haremstraum: dort agiert Anselmi als Herrscher über seine gesamten Frauenbekanntschaften und peitscht jedes Aufbegehren brutal nieder, während ihm im realen Leben seine Beziehungen zu Gattin und Geliebter völlig über den Kopf gewachsen und damit auch Auslöser solcher Allmachtsphantasien sind.

Nicht nur durch groteske Ereignisse und Figuren macht Fellini seine Szenen allmählich als Innenansichten erkenntlich, sondern es gibt auch zahlreiche point of view shots, wobei einige überraschend in eine externe Fokalisierung wechseln, wenn Mastroianni plötzlich während eines vermeintlichen POV weiter hinten ins Bild läuft. (Diesen Effekt findet man in extremer Häufung und etwas unsauberer auch in Woody Allens Hommage "Stardust Memories" (1980) - letztlich ein freies Remake von "Otto e mezzo", mit einer quasi aus "Sullivan's Travels" (1941) geborgten Hauptfigur und Bergmanschen Einflüssen - etwa aus "Tystnaden" (1963) in einigen Traumsequenzen.)
Da gerät Fellinis Inszenierung angenehm irritierend und kreativ, vermischen sich doch Außen- und Innenansichten auf extreme Art und Weise. Ähnlich verfährt er auch am Ende des Films, das nicht aus der ursprünglich geplanten Abreise Anselmis mit seiner Frau besteht. Am Ende, als die Pressekonferenz geplatzt ist, das Projekt beendet erscheint, fast Anselmi plötzlich neuen Mut, greift zur Flüstertüte und alles hört auf sein Kommando. Unterlegt mit heiterer Zirkusmusik von Nino Rota - der hier einen seiner besten Soundtracks geschaffen hat - wirkt die Szene sehr befreiend und wird häufig als Happy End gedeutet. Schaut man sich jedoch an wer da unter seiner Regie auftritt, drängt sich jedoch auch eine weniger befreiende Version auf: Der völlige Rückzug in die gestaltbare Phantasie, womit das Ende nicht heiterer wäre als das eines "Brazil" (1984) von Terry Gilliam, den Fellini nachhaltig beeinflusst hat.

Die Musik von Rota schwankt der Stimmung des Films gemäß zwischen düster und heiter, entspannend und hektisch, klassische Musik unterstützt den abwechselungsreichen Soundtrack zusätzlich und lieferte einen der besten Einsätze des Walkürenritts im Film überhaupt.
Vor allem ist es jedoch das Spiel von Mastroianni, der mit Fellini in "La dolce Vita" den absoluten Durchbruch zum europäischen Spitzenstar feierte und der beruflich wie privat fortan ein enger Vertrauter Fellinis war.
Gekonnt mimt er den überanstrengten, etwas lebensmüden Künstler mit Schaffenskrise, versteckt sich hinter dunklen Sonnenbrillen und bedeckt den Mund beim Reden mit Fingern oder Zeitungen, um eine unterschwellige Unsicherheit zum Ausdruck zu bringen. Mit dieser Rolle verband Mastroianni so viel, dass bei seiner Beerdigung das Leitmotiv aus "Otto e mezzo" in den Straßen gespielt worden ist.
Auch ansonsten ist der Film mit Anouk Aimée, Sandra Milo, Mario Pisu, Barbara Steele und Claudia Cardinal perfekt besetzt, die Ausstattung ist beeindruckend, die Kameraarbeit auf durchgängig hohem Niveau.

Nicht zu Unrecht taucht "Otto e mezzo" immer wieder bei Umfragen unter den 10 besten Filmen aller Zeiten auf. Bereits bei seinem Erscheinen reagierte die Kritik überschwenglich, verwies auf Einflüsse Prousts, Joyces und Ingmar Bergmans, selbst in der Sowjetunion reagierte man in freudiger Erregung (verkniff sich aber nicht den Hinweis, dass die individuelle Krise für ein Kollektiv nicht von sonderlichem Interesse sei) und Kosmonaut German Stepanowitsch Titow bezeichnete "Otto e mezzo" als "geheimnisvoller als der Kosmos."

Kurz: ein durchgängig auf hohem Niveau unterhaltsamer wie emotional vielschichtiger und wirksamer Mix aus Metafilm und Tragikomödie, handwerklich auf höchstem Niveau erarbeitet. 10/10.

[Und für mich noch vor "2 ou 3 choses que je sais d'elle" (1967) und "Le charme discret de la bourgeoisie" (1972) auf Platz 1 der besten Filme überhaupt - seit mittlerweile über sieben Jahren...]

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