Review

Es ist Samstag und um 15 Uhr 30 steigt im Dortmunder Westfalenstadion das Bundesligaheimspiel des ortansässigen Clubs SG Union 86 Dortmund. Schon früh am Tag beginnen die Aktivitäten der Beteiligten. Da holt ein Vater seinen Sohn aus dem Bett einer Frau, um ihn möglichst unauffällig wieder im Mannschaftshotel unterzubringen. Der Spielervermittler Roland F. Beyer (Bernd Stegemann) landet mit seiner Privatmaschine auf dem Dortmunder Flughafen, um mit dem Präsidenten des Vereins, Eberhard Vischering (Walter Kreye), einen Deal mit einem spanischen Spieler zu vereinbaren. Dieser erhält ein Fax von der Sparkasse, indem Handlungsbedarf wegen finanzieller Engpässe des Vereins angemahnt wird, worauf er den Manager und Kaufmann in die Spur schickt, für schnelle Lösungen zu sorgen. Auch die Fans beider Mannschaften beginnen sich auf den Weg zu machen und als die Kneipe um 9 Uhr morgens öffnet, stehen schon die Ersten vor der Tür…

Regisseur Adolf Winkelmann stellt in „Nordkurve“ keine Person als Protagonisten in den Mittelpunkt, sondern erzählt von dem Samstag, der für viele tausend Menschen der Tag der Woche ist und auf den sich ihr Dasein konzentriert. Das eigentliche Spiel nimmt zwar einen zentralen Punkt im Geschehen ein, bleibt aber letztlich nur der Baustein innerhalb eines komplexen Geschehens, an dem sämtliche Handlungsstränge zumindest räumlich zusammen laufen. Letztlich ist das nur konsequent, denn innerhalb der unterschiedlichsten Interessensgruppen - von den Vereinsverantwortlichen über Fernseh- und Radiojournalisten, Gastwirten, Imbissbudenbetreibern bis zu den verschiedenen Fangruppen - nimmt das Fußballspiel selbst nur noch die Funktion eines Katalysators ein, dessen Ergebnis sekundär ist, weil sowieso Jeder seine persönliche Interpretation dazu abgibt. Selbst die Spieler wirken mehr wie Werbetreibende in eigener Sache. Über allem schwebt ein riesiges Ego, welches fast jeden Beteiligten dazu zu bringen scheint, vor allem den Erfolg in eigener Sache zu suchen – egal ob es sich dabei um viel Geld, die Demütigung des gegnerischen Fan-Anführers oder nur um Ablenkung von der alltäglichen Langeweile handelt.

Das sehr abwechslungsreiche und aus eng verzahnten Szenen zusammengesetzten Geschehens wechselt ständig zwischen amüsanten, kritischen, satirischen und widerwärtigen Momenten, wobei ein dem Fußballgeschehen negativ gegenüberstehender Betrachter genügend Anlass geboten wird, seine Meinung bestätigt zu sehen. Aber das wäre zu einseitig, denn wenn nicht für jeden Beteiligten am Samstag auch die Chance bestände, seinen ganz persönlichen Erfolg zu erleben, würde die gesamte Szenerie nicht funktionieren. Gut war das für Winkelmann auch an der Reaktion der Betrachter zu erkennen, über die er in seinem Audiokommentar spricht. Während er allgemein viel Lob für die realistische Schilderung der einzelnen Gruppierungen erhielt, wurde ihm immer nur dann Übertreibung vorgeworfen, wenn es um die eigene Gruppenzugehörigkeit ging. Das ist auch daran zu erkennen, dass der lange Zeit sehr großzügig agierende Verein Borussia Dortmund, nach Ansicht des Films, Winkelmann den Zugang zum Stadion verweigerte.

Man kann das insofern verstehen, weil das Verhalten der Vereinsbosse den negativsten Eindruck hinterlässt. Zwar sind auch die Fangruppen von internen Hierarchien, Ausländerfeindlichkeit und Hass geprägt, aber in deren Schilderung kommt Winkelmann seinen früheren Filmen „Jede Menge Kohle“ und „ Die Abfahrer“ am nächsten, indem er auf die Hintergründe eines eintönigen Alltags mit Arbeitslosigkeit und Einsamkeit verweist. Selbst wenn die Befriedigung des Einzelnen darin liegt, sich durch erfolgreiche Schlägereien als Fananführer zu profilieren (sehr gut Stefan Jürgens als Hupsi) und andere den Tag nur zum Saufen nutzen, so wirken diese Reaktionen wenigstens unmittelbar, während die Machenschaften der Vereinbosse, Manager und Spielervermittler vor allem von deren Egozentrik geprägt sind, die sich auch im ständigen Beweisen beim weiblichen Geschlecht erfüllen muss. Ähnlich unsympathisch kommen die Journalisten weg, die hier vor allem als Selbstdarsteller auftreten, während die Spieler und ihr Trainer (Jochen Nickel) trotz gewisser Egoismen letztlich Diejenigen sind, die auf dem Platz Leistung bringen und damit die Einzigen sind, die für ihre Taten gerade stehen müssen. Nicht erstaunlich, dass „Nordkurve“ ihnen die wenigste Zeit widmet.

„Nordkurve“ wirkt fast dokumentarisch, ist aber ein sehr geschickt gestaltetes Panoptikum des bundesdeutschen Alltags. Die Mischung aus Unterhaltung und fast schmerzhaft anzusehender Realität ergibt einen gleichzeitig unverkrampften und kritischen Blick auf die deutsche Gegenwart, deren Aussage generalistisch und ohne Fußballspiel gilt. Auch für „Nicht-Fußballfans“ sehr zu empfehlen (9/10).

Details
Ähnliche Filme