„Alte Schule"
Begriffe wie „kultig", „feel-good", „retro" oder „old school" werden zur Etikettierung von Filmen inzwischen dermaßen inflationär verwendet, dass sie praktisch sinnentleert sind. Das ist schade, denn manchmal würde sie passen wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. So beispielsweise für Liam Neesons neuesten Beitrag zum männerorientierten Erwachsenenkino. Die Romanverfilmung „A walk among the tombstones" ist old school in praktisch jeder Hinsicht.
Drehbuchautor und Regisseur Scott Frank inszeniert völlig unbeeindruckt von modernen ADS-Mechanismen hinsichtlich Storytelling, Schnitt und Kameraarbeit. Er erzählt seine nachtschwarze Geschichte nüchtern, sachlich, fast schon behutsam, erzeugt dabei aber eine zunehmend an die Nieren gehende Spannung. Die Farbpalette bedient sich passend zur Handlung fast ausschließlich bei den dunkleren Tönen, vornehmlich braun. Die Figuren werden mit wenigen Pinselstrichen stark akzentuiert. Vieles erinnert dabei an die Kriminal-Thriller-Hochphase der 70er Jahre, als man in ein Szenario noch hineingesogen wurde, anstatt - wie heutzutage gängig - von ihm laut dröhnend überrollt zu werden.
Protagonist ist der lizenzlose Privatschnüffler Matthew Scudder (Liam Neeson), ein fast schon klassischer Noir-Antiheld. 10 Jahre (1991) vor der Haupthandlung hatte er seiner Dienst quittiert, da er unter Alkoholeinfluss nicht nur zwei flüchtige Gangster erschossen hatte, sondern versehentlich auch noch eine unbeteiligte Passantin. Seitdem fristet er sein tristes Dasein mit privaten Ermittlungen und regelmäßigen Treffen der anonymen Alkoholiker. Über diesen Kontakt gerät er an den Drogenhändler Kenny (Dan Stevens), für den er die Mörder seiner entführten Ehefrau aufspüren soll. Zunächst wenig interessiert, ändert Scudder seine Meinung aufgrund der perfiden Grausamkeit des Verbrechens.
Bei seinen Nachforschungen stößt er schließlich auf eine Mordserie, bei der sich das vermeintliche Täter-Duo offenbar ganz bewusst im Drogenmilieu bewegt ...
Liam Neeson hat sich seit seinem 2008er Überraschungs-Hit „96-Hours" zur grauen Eminenz des Actionkinos gemausert und sich dabei einen vergleichbaren Status wie Charles Bronson in den 1970er Jahren erarbeitet. Gern gibt er den wortkargen Einzelgänger, der aufgrund von Lebenserfahrung und Alterssouveränität längst die hemmende Scheinwelt politischer Korrektheit und manch anderer Konventionen hinter sich gelassen hat und einfach tut was getan werden muss bzw. was er für richtig hält. Anders als der schablonenhafte und auch mimisch weniger begabte Bronson, legt er diese Haudegen aber durchaus unterschiedlich an und verpasst ihnen jeweils ganz eigene Facetten.
So ist Matthew Scudder nur vordergründig (auch vom Filmposter suggeriert) ein Zwillingsbruder des schießfreudigen Brian Mills aus der „Taken"-Trilogie. Er ist weniger eine weitere Variation des rot sehenden Paul Kersey, sondern steht vielmehr in der Tradition von Sam Spade und Philip Marlowe. Scudder ist ein Grübler, ein Denker und Kombinierer. Er ist aber auch ein desillusionierter Zyniker, bei dem die Enttäuschungen des Lebens tiefe Spuren hinterlassen haben. Seine Fälle löst er nicht mit Faust und Waffe, sondern mit Hirn und Beharrlichkeit wobei ihm seine Vergangenheit als NYPD-Detective zu Gute kommt.
Liam Neeson ist die perfekte Besetzung für Scudder, da er sowohl die tatkräftige wie auch die mürrische und gebeutelte Seite der Figur glaubwürdig und überzeugend vermitteln kann und keineswegs seine „Taken"-Rolle neu auflegt. Wie wenig Drehbuchvorgaben Neeson benötigt um seine Figuren lebendig werden zu lassen zeigt auch das Zusammenspiel mit seinem Teenager-Costar Brian Bradley. In nur wenigen Szenen entwickelt sich eine von gegenseitigem Respekt und unausgesprochener Zuneigung geprägte Beziehung zwischen dem obdachlosen Straßenjungen T.J. und dem eigenbrötlerischen Privatdetektiv jenseits gängiger Kitsch- und Rührseligkeitsfallen.
Der eigentliche Plot lässt für Sentimentalitäten jeglicher Couleur auch kaum Platz. Da jagt ein abgehalfterter Privatdetektiv im Auftrag eines kaltherzigen Gangsters ein sadistisches Killer-Duo, das seine weiblichen Opfer vor der Zerstückelung ausgiebig foltert. All das spielt in den wenig glamourösen Hinterhöfen, halb verfallenen Backsteingebäuden und tristen Friedhöfen Brooklyns, von wo aus das glitzernde, pulsierende Manhattan, obschon in Sichtweite, kaum weiter entfernt sein könnte.
Auch wenn der Film im Schlussdrittel etwas schwächelt und die finale Konfronation arg konstruiert daherkommt, so beweist Scott Franks insgesamt dennoch ein untrügliches Gespür für die Mechanismen des Film-Noir und justiert Bebilderung wie Narration passgenau. Dass eine solch bewusste old school-Inszenierung auch gehörig schief gehen kann, bewies unlängst der artverwandte Clive Owen-Thriller „Blood Ties". Mann muss nicht unbedingt Chandler und Hammett gelesen haben - wie Scudders Protegé T.J. - um einen stilechten Hard-boiled-Krimi zum Leben zu erwecken. Es schadet aber bestimmt auch nicht.
Scott Franks hat jedenfalls den Marlowe-Test recht souverän bestanden und darf gerne noch öfter ermitteln lassen. Material ist mehr als genug vorhanden, schließlich hat Romanautor Lawrence Block seit 1976 bereits 17 Bände um den wortkargen Ermittler Scudder verfasst. Für Star Liam Neeson wiederum tut sich da eine zukunftsträchtige Franchise-Chance jenseits der schweißtreibenden „Taken"-Reihe auf. Als old school-Sympathisant kann man ihn dazu nur ermutigen.