Review

Mario Bavas noch in Schwarzweiß gedrehter Film "La ragazza che sapeva troppo" ("The girl who knew too much" - eine Reverenz an Hitchcocks Film ähnlichen Namens) gilt neben seinem etwas späteren Farbfilm "Sei donne per l'assassino" ("Blutige Seide") als Ur-Giallo, und tatsächlich zeigt der Film einige Elemente, die sich später noch oft im Genre wiederfinden lassen sollten. Eines davon ist die häufig als Handlungsbestandteil anzutreffende ausländische (oft, wie auch hier, amerikanische) Herkunft des Protagonisten, hier der Protagonistin, die ohne Ahnung von den Dingen, die auf sie zukommen, auf dem Weg nach Rom ist. Es handelt sich um die junge und etwas naive Touristin Nora Davis (Letícia Román), von der gleich zu Beginn erwähnt wird, dass sie gerne Kriminalromane (O-Ton "gialli") liest. Und eben damit beschäftigt sie sich, als wir sie zu Beginn des Films im Flugzeug sehen - zu dem lasziv jazzigen Titellied "Furore" aus der Kehle des damals blutjungen Adriano Celentano. Ein Coautor war Franco Prosperi, der im Vorjahr zusammen mit Gualtiero Jacopetti den u. a. durch seinen eindrücklichen Erzählermonolog brillierenden Kuriositätenfilm "Mondo Cane" gedreht hatte. Auch unsere "Ragazza" beginnt mit einem eloquenten Erzähler, der die Protagonistin liebevoll vorstellt und im folgenden das eine oder andere Mal wieder auftaucht und auf die Lieblingsautoren von Nora Davis verweist: Edgar Wallace, Agatha Christie, Mickey Spillane.

Eine ebenso witzige wie vieldeutige Rahmengeschichte (die auch ein sehr amüsantes Schlussbild hervorbringen wird) spielt der Protagonistin eine Schachtel haschisch-versetzter Zigaretten zu, von denen sie sich - unbewusst des besonderen Inhalts - eine genehmigt. Dies setzt Zeichen für die folgenden Erlebnisse. Erlebt sie die folgenden Dinge im Rauschzustand, deliriert sie (wie ihr des öfteren unterstellt werden wird)? Zumindest werden wir ein paar leicht schiefstehende oder verschwommene Bilder sehen, die dies anzudeuten scheinen. Hier setzt sich Bava, der Schöpfer verdichteter, traumspielartiger Szenarien, von Kriminalromanen wie denen Agatha Christies mit ihren analysierenden Hauptfiguren ab und etabliert eine Protagonistin, die sich dem Ziel der Handlung szenenweise geradezu entgegenträumt.

In Rom wird Nora von ihrer bettlägerigen Gastgeberin aufgenommen und trifft deren Arzt, den jungen Marcello (John Saxon). Nachdem die kranke Frau an einem plötzlichen Anfall stirbt, irrt Nora - nur mit einem Regenmantel bekleidet - nahe der Piazza di Spagna umher. Hier, wo tagsüber einer der vitalen Mittelpunkte Roms ist, erlebt sie eine alptraumhafte Szene: Eine Frau mit einem Messer im Rücken, gefolgt von ihrem Mörder, taumelt herbei und stirbt. Nora fällt ihn Ohnmacht, wird am nächsten Morgen aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht, wo man ihr zunächst nicht glauben will - aufgrund ihrer Krimilektüre wird ihr "Mythomanie", die Besessenheit von Erzählinhalten, unterstellt. Nach ihrer Entlassung findet sie Unterschlupf bei Laura (Valentina Cortese), die ihr während einer Reise ihr Haus überlassen will. Doch die Sicherheit dort ist trügerisch. Nora geht dem beobachteten Ereignis nach und findet immer mehr Hinweise darauf, dass sie früher oder später mit dem Mörder konfrontiert werden wird - ob sie will oder nicht. "Obwohl sie nach außen hin die Rolle der perfekten amerikanischen Touristin spielte, arbeitete ihr Unterbewusstsein", heißt es später.

Sowohl bei der geheimnisvollen Szene auf der Spanischen Treppe als auch in späteren Szenen innerhalb des Hauses erweist sich Bava - den man als Virtuosen des Farbeinsatzes kennt - ebenso als Meister des Schwarzweißbildes, von Licht und Schatten, des Ver- und Enthüllens von Gesichtern und Objekten. Zigarettenrauch bildet einen diffus wirken lassenden Schleier um Figuren. Noras Blick aus schwarzumrandeten Augen erinnert an den von Barbara Steele als Asa in "La maschera del demonio" und lässt das hübsche Gesicht Letícia Románs stellenweise recht zwielichtig wirken. Wenn Marcello betont, die Piazza di Spagna sei "das wirkliche Rom, wo der Sonnenschein hell und die Luft klar ist" - als wolle er nicht wahrhaben, dass dort grausame Ereignisse wie das von Nora beschriebene stattfinden könnten -, wird dies womöglich durch ein Filmbild kommentiert, das den Schatten eines Mannes zeigt, der von den Stufen der Spanischen Treppe geradezu zerschnitten wird. Hinter den Fenstern der Wohnung Lauras kündigen übergroße Schatten unbekannte Besucher an.

Typisch für den Stil des Giallo sollte die Eleganz und die weltmännische Ausstrahlung der Hauptfiguren werden. Chic ist allgegenwärtig: Nora trägt ihre teuren Mäntel ebenso selbstverständlich wie Marcello seinen perfekt sitzenden Anzug. Andere Figuren sind eher auf optische Standardelemente hin angelegt; der Anblick blütenweißer Krankenschwesternhauben veranlasst die erwachende Nora zu der Frage, ob sie im Paradies sei; das Gesicht des Inspektors wird von einer großen dunklen Brille skurril beschattet.

Gutaussehende, leichtlebige Frauen und Männer bevölkern die Welt des Giallo, doch hinter der Sorglosigkeit ihrer Existenz lauern Obsessionen und unbewältigte Traumata. Aber diese Konstellationen werden weniger als Gesellschaftsanalysen vermittelt, sondern eher als dunkle Märchen für Erwachsene. Künstlichkeit und ein unwirklich perfektioniertes optisches Erscheinungsbild bilden das Stilideal, das Bava mit diesem Film und mehr noch mit "Sei donne per l'assassino" entscheidend beeinflusste. "Wenn mein Mann nicht da ist, schlafe ich immer in diesem Bett. Es ist, als liege man in einem Gemälde" lässt der Film Laura sagen und legt so seiner Figur das Bekenntnis zum Illusionären, Trügerischen in den Mund.

Die Akustik des Films ergänzt die Vielzahl an Rätseln und Täuschungen, die Nora und Marcello umgeben. Präparierte Tonbänder simulieren die Anwesenheit nicht Anwesender - wenn ein Tonband das Titellied in beschleunigter Form abspielt, scheinen Nora und Marcello geradezu ihrem eigenen Film zuzuhören. Die kühle, elegante Filmmusik von Roberto Nicolosi vervollständigt die geisterhaften Schwarzweiß-Impressionen.

Das Talent Bavas, ohne großes Budget dichtes und durchdachtes Kino zu schaffen, ist wie in vielen Filmen aus seiner Hand auch hier allgegenwärtig. Als "Ur-Giallo" und aufschlussgebender Vorreiter eines Genres, wie auch für sich genommen, ist "La ragazza che sapeva troppo" eine faszinierende und überzeugende Filmerfahrung.

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