"Habe ich Ihnen schon von dem Mann erzählt, der seinem Arsch beibrachte zu reden? Er konnte seinen Unterleib rhythmisch heben und senken und dabei Worte furzen. Etwas Ähnliches habe ich vorher noch nie gehört; es war ein blubbernder, heiserer, stockender Ton. Ein Ton, den man riechen konnte. Der Mann arbeitete auf dem Rummelplatz und anfangs war es nichts weiteres als 'ne neue Bauchrednernummer. Dann plötzlich begann er mit dem Arsch zu reden. Irgendwann fing er an; nicht, dass er was geprobt hätte - sein Arsch antwortete ganz nach Belieben. Dann entwickelte er sowas wie zahnähnliche, spitze Widerhaken und damit konnte er dann sogar essen. Zunächst fand er das noch ganz lustig und baute darauf seine Nummer auf, aber das Arschloch fraß sich durch die Hose und plapperte auf offener Straße und grölte, es wolle gleiche Rechte. Und es besoff sich auch und jammerte ständig, dass es kein Mensch lieben würde; es wollte auch geküsst werden wie jeder andere Mund. Schließlich hatte es nur noch geflucht. Tag und Nacht, wo er auch war, man hörte ihn nur noch schreien: 'Halt endlich die Klappe!'..."
Als einen literarischen Rausch, einen Kafka-Rausch beschreibt Joan Lee das Gefühl, das sie umnebelt, nachdem sie sich eine Ladung Wanzenpulver in die Brust gespritzt hat. Man glaube, ein Käfer zu sein, fügt sie hinzu - eine Anspielung auf Franz Kafkas "Die Verwandlung", eine Erzählung, in der die Hauptfigur Gregor Samsa eines Morgens als widerwärtiger Käfer erwacht. Sie bedeutet einiges in einem Werk, das sich dem Rationalismus abgeschworen hat und stattdessen das Kafkaeske zelebriert, jene skurrile Stimmung, die von der seltsamen Absurdität und dem latenten Abnormen, von der mehrdeutigen Interpretation und dem surreal Anmutenden dominiert wird, die nicht - wie die Literaturvorlage William S. Burroughs' - im Dienste des entfesselten narrativen Exzesses steht; die eigentlich gar nicht mit irdischen Begriffen zu umschreiben ist.
Genau diese verschrobene Atmosphäre beherrscht David Cronenbergs "Naked Lunch", einen Film, der bei der ersten Sichtung wohl kaum zu erschließen sein wird. Ob es überhaupt möglich ist, ihn in allen Details, aller Symbolik annähernd vollständig zu begreifen, das ist eine Frage, für die es keine allgemeingültigen Antworten geben wird. Sicher ist vielleicht nur eines: Ohne etwas über William S. Burroughs und zumindest die Hintergründe der Entstehung seines literarischen Skandalwerks "Naked Lunch" (einem der Prunkstücke der Beat Generation, in dem sich sexuell-moralische Konventionen völlig auflösen und in einen selbstverständlichen Nihilismus überführt werden) in Erfahrung gebracht zu haben, wird Cronenbergs Film für den Betrachter ein sperriges, unentschlüsselbares Rätsel bleiben. Denn sein "Naked Lunch" versteht sich mehr als ein eigenwilliger, keinesfalls akribische Authentizität für sich beanspruchender Auszug aus der Biographie William S. Burroughs' denn als eine Verfilmung der vom amerikanischen Schriftsteller zu Papier gebrachten Impressionen seines chronischen Drogenrausches.
In "Naked Lunch" führt uns Cronenberg in die seltsame Welt des Bill Lee. Im Jahre 1953 verdient er sich seine Brötchen als Kammerjäger und rückt den Insekten mit gelbem Vernichtungsmittel zuleibe, einem Stoff, der offensichtlich eine berauschende Wirkung entfaltet, wie sich an Bills Frau Joan feststellen lässt, die sich mit dem Gemisch regelmäßig in einen Zustand der Beneblung versetzt. Bill kostet ebenfalls von dem Wanzenpulver und bekommt die halluzinatorische Kraft des Vernichtungsmittels zu spüren, als ihm in den Räumlichkeiten des Rauschgiftdezernats ein riesiger sprechender Käfer berichtet, seine Frau sei eine feindliche Agentin und müsse umgehend beseitigt werden. Bill nimmt daraufhin seinen Schuh, zerschlägt das Ungeziefer kurzerhand und flüchtet nach Hause, wo bald ein einschneidendes Erlebnis stattfinden wird: Im Drogenrausch fordert Bill Joan auf, die Wilhelm-Tell-Routine mit ihm durchzuspielen. Sie setzt sich ein Glas auf den Kopf, Bill visiert es mit einem Revolver an und schießt - mitten in Joans Stirn.
Der biographische Aspekt bezüglich William S. Burroughs' wird nach dieser fehlgeschlagenen Schießübung unverkennbar. Denn 1951 erschoss er in Mexiko unter Drogeneinfluss tatsächlich seine Frau Joan beim Nachstellen der legendären Apfelszene Wilhelm Tells. Dieses Ereignis beeinflusste den wahrhaftigen William S. Burroughs, der im Übrigen eine gewisse Zeit lang tatsächlich als Kammerjäger tätig war, ebenso wie Cronenbergs Protagonisten: Es war der Anstoß für das literarische Schaffen; das beweist bei genauerer Betrachtung auch der auf den ersten Blick wirr erscheinende Schluss. Bill Lee, der im weiteren Verlaufe auch hin und wieder als William Lee angesprochen wird, was als ein Pseudonym für William S. Burroughs gilt, beginnt zu schreiben und die Drogen werden immer mehr zu seinem Lebenselixier. Besonders das zermahlene schwarze Fleisch des riesigen brasilianischen Tausendfüßlers als Ersatzdroge für das Insektenvernichtungsmittel versetzt Bill schier in einen Dauerrausch. Realität und Halluzination, sie vermischen sich zu einer transzendenten Welt, in der alles als real empfunden wird und doch unreal ist. Bill ist fest im Glauben, seinem Freund Martin ein Ticket für die Überfahrt nach Interzone zu zeigen, aber es ist tatsächlich ein mit Rauschmittel gefülltes Fläschchen.
Interzone selbst, ein orientalisch wirkendes Niemandsland, in dem das Fleisch der überdimensionierten Tausendfüßler in Fabriken zu einer pulvrigen Droge zerstampft wird, ist ein Zufluchtsort, eine Scheinwelt des sich im Rausch Befindenden. Alles, was sich hier abspiele, geschehe telepathisch, im Unterbewusstsein, meint Tom Frost, ein um Kreativität ringender Schriftstellerkollege Bills. Hier versucht auch Bill selbst seinem Schreiben nachzukommen, auf einer Schreibmaschine, die sich von Zeit zu Zeit in einen Käfer verwandelt, der durch eine Afteröffnung mit Bill kommuniziert und ihn mit obskuren Geheimdienstinformationen versorgt. In Interzone regiert zweifellos das Abstruse. Und dieser Eindruck entsteht nicht nur dadurch, dass der herrlich lakonische Bill gelegentlich an kompletten Aussetzern leidet und Cronenberg so mitunter zu radikalen Szenenwechseln greift, die erst eine Neuorientierung des Zuschauers erfordern.
In dieses Schema der erschwerten Rezeption passt nicht zuletzt natürlich auch das Unbequeme, das Ekelhafte, das wie eine naturgemäße Selbstverständlichkeit in der Bilderwelt des Kanadiers allgegenwärtig ist. Und es scheint dabei nicht einmal fremdartig in Interzone, wo Schreibmaschineninsekten mit dem Autor die fragwürdigsten Konversationen führen oder so genannte Mugwumps, außerirdisch anmutende Wesen, versklavt werden, um den Menschen ihr berauschendes Mugwump-Sperma zu spenden, das aus phallusförmigen, auf ihren Köpfen befindlichen Öffnungen trieft. Es ist wahrlich schon kein leichter Stoff, den uns Cronenberg vorsetzt. Doch es liegt am Betrachter selbst, welchen Grad an Zugänglichkeit er erreichen wird. Wer sich nicht auf "Naked Lunch" einlässt oder ihm nach erster enttäuschender und von Hintergrundwissen unbeeinflusster Sichtung keine zweite Chance gibt, auf den wird dieses Cronenberg'sche Universum keinerlei Faszination ausüben. Es mag auf den ersten Blick wohl wenig Attraktivität ausstrahlen, doch hinter den rauchigen, nebulösen, zum Teil abstoßenden, irrationalen und träge wirkenden Bildkompositionen verbirgt sich ein Dorado der Mehrdeutigkeiten.
Die Symbolik nämlich mutet geradezu exorbitant an. Die Metaphorik hat "Naked Lunch" fest in ihrer Gewalt, insbesondere die sexuell zu deutende Allegorie, die zunächst fast noch unscheinbar bleibt, sich jedoch fortlaufend immer mehr intensiviert, bis hin zur nackten Darstellung ausgesprochen absonderlicher homosexueller Phantasien; vor allem als Sinnbild für die gleichgeschlechtliche Neigung William S. Burroughs'. Und dieser bildet in Gestalt des grotesk komischen Bill Lee, der von Peter Weller überragend mit außerordentlichem Feinschliff verkörpert wird, schließlich den Mittelpunkt in diesem eigentümlichen Kosmos. Gar nicht einmal stellvertretend für das gesamte Schriftstellertum, aber gewiss für einige besondere seiner nicht streng rationalistisch denkenden, hinsichtlich berauschender Substanzen auch experimentierfreudigen Exemplare, die zuweilen innere Metamorphosen, ein Stück weit Prozesse der Identitätswandlung durchlaufen. Die Doppelbödigkeit ist bei Cronenberg nicht immer offensichtlich, manchmal auch geradezu provozierend unpoetisch und mit vulgären Gleichnissen und Sinnbildern in Szene gesetzt, doch ist sie letztlich - das steht fest - das Reizvollste an diesem wunderlichen, diesem verrückten Film.
"...Er trommelte mit seinen Fäusten auf es ein und steckte Kerzen rein, aber ohne Erfolg. Und das Arschloch antwortete: 'Irgendwann wirst Du vielleicht mal die Schnauze halten, aber ich mit Sicherheit nicht, weil wir nämlich deine Fresse überhaupt nicht mehr brauchen werden. Ich kann essen und reden und scheißen'. Als er irgendwann morgens aufwachte, stellte er fest, dass sein Mund wie der Schwanz einer Kaulquappe mit einer gallertartigen Masse bedeckt war. Immer wieder riss er sich das Zeug vom Mund - aber die Stücke klebten an seinen Händen wie brennendes Gelee. Sie wuchsen dort fest und am Ende war sein Mund vollkommen versiegelt. Sein Kopf wäre wahrscheinlich amputiert worden, wenn seine Augen nicht gewesen wären, denn eines konnte das Arschloch nicht: Sehen. Dazu hatte es die Augen nötig. Ganze Nervenbahnen wurden blockiert, infiltriert und atrophiert, sodass das Gehirn keine Befehle mehr erteilen konnte. Es war regelrecht im Kopf gefangen, abgeschnitten. Für eine gewisse Zeit gelang es noch, hinter den Augen, die schweigende Hilflosigkeit des flehenden Gehirns zu erkennen. Wenig später starb das Gehirn völlig ab und die Augen erloschen. Denn es waren nicht mehr Gefühle in ihnen, als man in den Stielaugen von Garnelen findet." (Bill Lee)