Angelehnt an Brechts Anna I und Anna II aus „Die sieben Todsünden" (1933), lässt Vera Chytilová in Form von Marie I und Marie II die scheinbar personifizierte, moralische Verkommenheit auf die Welt los - und verkneift sich dabei nicht den irritierenden Kniff, die von ihnen ausgeübten Geschehnisse als unterhaltsamen Klamauk in Szene zu setzen und ihn in gewisser Weise für einige Zeit als erstrebenswert hinzustellen. Im Prinzip muss das nicht zwangsläufig verkehrt sein - doch wie noch zu zeigen sein wird, enthält der Film dadurch keinesfalls das Potential zur politisch subversiven, anarchischen Komödie, denn es gelingt Chytilová letztlich nicht, eine eindeutige und haltbare Position zu vertreten.
Bereits der Vorspann macht klar, was auf den Betrachter zukommt: während die Beteiligten aufgelistet werden, wechseln sich hinter den Schriftzügen Bilder von laufenden Zahnrädern und Getrieben mit Bildern von Explosionen ab... auch im Film wird eine eingefahrene Ordnung immer wieder gewaltsam durchbrochen und neue Wege tun sich auf wie in den Bildern von Vorhängeschlössern, die zersetzenden Rostflecken weichen.
Die abgebildeten Explosionen bezeichnen darüber hinaus aber noch einen völlig anderen Aspekt des Films: Sie stehen (wie auch gegen Ende des Films) für den (im 20. Jahrhundert immer destruktiver gewordenen) Krieg, der hier einen symbolischen Rahmen bildet, innerhalb dessen nun andere, konkretere und harmlosere Agressionen und Offensiven präsentiert werden, die vor dem gegebenen Hintergrund der Kriegsassoziationen weitestgehend legitimiert erscheinen (in dem Sinne, das sie im Vergleich kaum noch der Rede wert sind). Dieser Anschein der Legitimation wird gleich zu Beginn von den Hauptpersonen zusammengefasst: Der Film beginnt nämlich mit dem Abkommen von Marie I und II, nicht weniger verdorben zu sein als die Welt es in ihren Augen ist.
In der Folge sieht man sie betrunken durch ein Lokal sausen (aus welchem sie sehr bald herausgeschmissen werden), eine Toilettenfrau bestehlen, Geliebte zum Narren halten, sich gegenseitig Beine stellen und das Festessen einer feinen Gesellschaft verbrauchen - nicht zuletzt innerhalb einer kleinen Tortenschlacht. Das Schaukeln in einem Kronleuchter wird ihnen jedoch zum Verhängnis: Sie fliegen dabei durch ein Fenster und ertrinken in einem darunter liegenden Gewässer. Aber der Film zeigt, dass es auch anders hätte kommen können (freilich um trotzdem nahezu identisch zu enden) und nun sieht man die beiden bei der Behebung der von ihnen veranstalteten Schäden der Tortenschlacht - doch während sie davon murmeln besser und glücklich zu werden, werden sie von dem herabstürzenden Kronleuchter erschlagen.
"Dedicated to Those Whose Sole Source of Indignation is a Messed-Up-Trifle", verkündet eine Texttafel.
Genauso frei wie die von Sittlichkeit befreiten Mädchen ist auch die formale Gestaltung des Films: Vera Chytilová mischt s/w Bilder mit verfremdeten Farbbildern, einzelne Frames werden zu wahren Schnittgewittern aneinandergereiht und in einer der spannendsten Szenen des Films zerschnippeln sie nicht nur - im Stile eines schelmisch schleichenden Harpo Marx - diverse Objekte, sondern auch sich selbst und das gesamte Filmbild. Mal gibt sich der Film als slapstickartige Stummfilmkomödie, mal als avantgardistischer Experimentalfilm und hin und wieder nur als irritierend ausgestattetes, opulentes Schauspiel.
Diese formal wie moralisch von jeder Ordnung befreite Geschichte entwickelte sich damit nicht zufällig von einem angenehmen Vertreter der tschechischen Neuen Welle zu einem der beliebtesten Filme des Prager Frühlings nach dessen Ende er jedoch schnell verboten wurde. Einfluß hatte der Film scheinbar auch auf Jacques Rivettes "Celine et Julie vont en bateau" (1974), der nicht nur die beiden erstaunlich ungezwungenen Frauengestalten übernimmt (die jedoch bei Chytilová in ihrer kindlichen Verspieltheit kaum emanzipiert wirken), sondern ebenfalls Verweise auf die Marx Brothers in deren Verhaltensweisen einbaut. Schnitttechnisch erinnert der Film an vereinzelten Stellen auch an Godard, in dessem "Pravda" (1970) Vera Chytilová auch als Darstellerin neben den übrigen Mitgliedern der Group Dziga Vertov zu sehen ist.
Die Analyse des Inhalts von "Sedmikrasky" ist jedoch ebenso schwierig vorzunehmen, wie der Hinweis auf dir formale Gestaltung des Films leicht von der Hand geht. Chytilová selbst sagte über ihr wohl bekanntestes Werk: "Es handelt sich nicht um die Kritik an zwei jungen Mädchen, die extravagant und untypisch sind, sondern um die Kritik an einem Lebensstil, dem wir alle in unserem typischen und geordneten Leben bis zu einem gewissen Grad unterliegen. Wir wollen dir Fruchtlosigkeit eines Lebens, gebaut am Kreis, am Zauberkreis von Pseudobeziehungen und Pseudowerten, erklären, eines Lebens, das unabdingbar zum Leerlauf, zur Pose führt, gleichgültig ob Verderbtheit oder Glück vorgespiegelt werden."(1)
Dass es ihr zufolge gleichgültig ist, ob nun Verderbtheit oder Glück "vorgespiegelt" (!) werden, zeigt sich einprägsam am zweifachen Ende: unabhängig davon, ob die "Tausendschönchen" (so der dt. Titel) nun in ihrer anarchistischen Art verharren oder sich bessern - letztlich ändert sich nichts am weiteren Verlauf der Dinge. Es wird also darauf hingewiesen, dass der Unterschied zwischen beiden Lebensstilen kaum eine bedeutende Rolle spielt, die Kritik an den "Pseudowerten" und "Pseudobeziehungen" kommt jedoch kaum zum Vorschein und bleibt bestenfalls oberflächlich. (Auch ihre konkrete Benennung fehlt und ist bloß zu erahnen... und alternative, echte Werte und Beziehungen werden nicht vorgestellt.)
Und gerade dieser Punkt unterscheidet dann doch die "Tausendschönchen" von den im Film zitierten Marx Brothers, bei denen der Angriff auf bestimmte Wertvorstellungen immer im entsprechend unkonventionellen Handeln Ausdruck findet und diese Handlungen mit Sinn erfüllt. Hier bleiben diese Handlungen letztlich unbedeutend, das Ende des Films spricht ihnen jede Wirkung ab.
Diese Gleichgültigkeit schmälert die Qualität des Films erheblich: Der ausgelassene Schabernack, die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen werden zwar formal ausgelassen und beeindruckend präsentiert (und die Widmung "Dedicated to Those Whose Sole Source of Indignation is a Messed-Up-Trifle" sowie das rahmende Kriegsgeschehen deuten im Prinzip an, dass die Boshaftig- und Unsittlichkeiten zumindest kaum der Rede wert sind), die letztliche Aussage leugnet die erstrebenswerten Aspekte dann jedoch wieder. Zudem wird an keiner Stelle ein Verfahren präsentiert, mit welchem "Pseudobeziehungen" und "Pseudowerten" beizukommen wäre. Ein unbekümmertes Zuwiderhandeln entpuppt sich als ebenso unwirksam wie ein Befolgen; damit leugnet Chytilová die Möglichkeit, mit solch einem Handeln bestimmte Werte welcher Art auch immer dauerhaft zu untergraben - für sie scheint solch ein Handeln selber schon wieder diesen Werten auf entgegengesetzte Weise verfallen zu sein. Eine Lösung wird von ihr dann jedoch an keiner Stelle präsentiert.
Die Aussage gerät damit fatal pessimistisch: wer aufbegehrt gegen (die damals) gängigen Moralvorstellungen ist verloren - und wer ihnen folgt, ist auch verloren. Nicht nur würde Chytilová den Zuschauer somit in die Antriebslosigkeit und Passivität treiben (schließlich ist es eh egal, was er tut), sondern darüber hinaus auch zu ihrem formalen Konzept in einem Widerspruch stehen, innerhalb dessen das Aufbegehren hervorragend klappt und darüber hinaus auch nicht ohne Auswirkungen auf die künftige Filmgeschichte geblieben ist.
Etwas irritierend ist auch die seltsam anmutende Form der Emanzipation, die hier in symbolischen Kastrationen und dem eigenwilligen Umgang mit Männern mehrfach Ausdruck findet, deren Vorreiterinnen sich letztlich jedoch nur unbedarft durch den Film kichern.
Insgesamt ist der Film ein Werk der Unentschiedenheit, das zwar Betroffenheit erkennen lässt, aber kaum Alternativen bietet, das anarchistische Befreiungsversuche gleichermaßen verklärt und müde belächelt - und das sich beständig selbst im Wege steht.
Da jedoch die Form von erstaunlicher Experimentierfreudigkeit geprägt ist und trotz inhaltlicher Uneindeutigkeiten stellenweise trotzdem noch ein befreiendes Gefühl vermittelt wird - das den Film teilweise in die Nähe revolutionärer Werke wie Godards (etwas anstrengenden aber lohnenden) "1+1" (1969) oder Dusan Makavejevs "Sweet Movie" (1974) rückt, ihn während des Prager Frühlings zum Erfolgsfilm avancieren ließ und die durchaus enthusiastische Aufnahme junger 68er in anderen Ländern bewirkte - sind gute 7/10 sicherlich noch drin. Die inhaltliche Zerfahrenheit (oder aber auch die Vermittlung von Ohnmacht und der Sinnlosigkeit von Subversion & Revolution) verhindert jedoch den Meisterwerkstatus, den er auf formaler Seite sicherlich verdient hat.
(1) Zitiert nach Oksana Bulgakowa; in: Thomas Koebner (Hg.): Filmklassiker. Stuttgart: Reclam 2002. Bd. 3, S. 42.