Review

Es gibt ihn, den gereiften Horrorfilm, produziert für ein erwachsenes Publikum und nicht nur für die Fans. Und es gibt die Horrorliteraturverfilmung, die ihrer Vorlage nicht nur gerecht wird, sondern diese auch noch verfeinert. "Candyman" ist der Beweis.
Obwohl der Film bei seinem Kinoeinsatz zugegebenermaßen kaum tieferen Eindruck hinterlassen hatte. Zu wenige konventionelle Horrormittel, an die man als Konsument gewöhnt ist. Nicht übermäßig viel Blut. Eine schier ausweglose Story ohne wirkliche positive Wendung. Was soll daran schon so toll sein?
Doch "Candyman" entfaltet seine Wirkung über eine längere Zeit hinweg. Offensichtlich wurde das erst, als bei der Fernsehausstrahlung so ziemlich jede Szene problemlos aus der Erinnerung wieder auftauchte, praktisch deckungsgleich und ohne Verfälschungen. Ein Original, sicherlich. Der Film muß also etwas haben.
Inzwischen ward ein Klassiker daraus, dem auch seine weitaus schwächeren Nachfolger nichts anhaben konnten. "Candyman" bleibt ein ungewöhnlicher Horrorfilm, obwohl er bisweilen bekannte Bilder in seiner Struktur absorbiert und eines der wenigen Beispiele urbanen Horrors, die das Kino bis heute geboten hat.
Vor allem die erste Hälfte ist ein stilles Meisterwerk an blutlosem Schrecken, wenn Virginia Madsens Helen Lyle sich daran macht, die Wurzeln urbaner Mythen auszugraben und zu diesem Zweck in eine halb zerfallene Hochhaussiedlung vor den Toren einer amerikanischen Großstadt aufbricht. Ihre Fotosafari in der teilweise zerstörten Betonwüste zeigt den wahren Schrecken der modernen Zeit, den sozialen Abgrund, die lauernde Drohung in der Dunkelheit aufgebrochener und verfallener Wohnungen. Gleichzeitig stellt es die Menschen in den Kontext der verschwindenen Individualität, der fortschreitenden Anonymität in einer Zeit der Wohnbunker, wo jede Wohnung gleich aufgebaut ist, wie Insektenwaben. In dieser Atmosphäre wird die wahre Natur der Urban Legends enthüllt, wenn die eigene Geschichte eines Menschen nicht mehr wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang gewinnen die Geschichten und Mythen an Kraft, werden menschlicher als der Mensch, bis sie schließlich eigenes Leben entwickeln. Sein ohne Sein zu müssen, wie es der Candyman später ausdrücken wird.
Regisseur Bernard Rose und Clive Barker selbst haben die Kurzgeschichte größtmöglichst erweitert und erschaffen sie durch Bilder, die die Botschaft des Films unterstützen. Die Kamera kreist in großer Höhe über halbgeometrischen Formen, die die Stein- und Betonlandschaften unserer Großstädte aus der Luft gesehen bilden, während sich die Menschen darin verschwindend nur als Punkte ausmachen lassen.
Hier benötigt der moderne Horror keinerlei Blut, die Bilder der verkommenen Siedlung Cabrini Green allein verursachen Unbehagen und Unruhe. Gekonnt spielt Rose mit Spekulationen über den Candyman, präsentiert Inschriften, Abbilder, Geschichten, schließlich einen Angreifer nach dessen Abbild. Barker, das bedeutet Schmerzen, Veränderung, neues Fleisch. Das erfährt auch Helen Lyle. Fünf Wörter in einen Spiegel - ein Kinderspiel!
Dann, nachdem die Hälfte gerade überschritten ist, bricht Rose die Realität auf, holt die andere Seite zu uns. Auftritt des Candymans.
Der ist zunächst gewöhnungsbedürftig, denn Tony Todd sieht zu edel, zu menschlich, zu gewöhnlich aus. Das kann keine Legende sein.
Und weil das mit jeder Maske so gewirkt hätte, greift Rose zu Horrorkonventionen und stürzt den Zuschauer gleich mit in den Abgrund. Von einer Sekunde zur anderen schwimmt die Szenerie in Blut und Fleisch und wie Helen Lyle stehen wir plötzlich im Dauerfeuer der auf uns einstürzenden Realität. Mord, Entführung und dazu ein Filmriß erster Güte. Und es wird nicht mehr aufhören.
Jetzt beginnt "Candyman" in gewisser Weise zu schwächeln, verliert seine Innovativität, gerät in den Mahlstrom gewohnten Horrors. Trotzdem kommt der Zuschauer nicht mehr aus dem Strudel heraus, denn mit unserem Sympathieträger sinken auch wir. Da werden ein paar übel zugerichtete Leichen uns nicht aufhalten.
Doch Rose und Barker behalten die Richtung bei: jetzt wird die andere Seite präsentiert. Unsere liebgewonnene, sozial sichere Realität, ungläubig und sich gegen den Menschen kehrend. Helen verliert langsam aber sicher sämtliche Bezugspunkte, das schwache soziale Netz menschlicher Beziehungen reißt. Sei mein Opfer, sagt der Candyman, doch Helen wird der menschlichen Verweigerung geopfert. Legenden sind Legenden, sonst nichts.
Jetzt hat uns der Film paradoxerweise am Haken, nur ertrinkt die gute Absicht hier in einigen harten Gore-Sequenzen, die den Puls des Films seltsamerweise dämpfen, nicht höherschlagen lassen.
Am Ende der Spirale steht schließlich die Wiedergeburt nach der kompletten Vernichtung des Menschseins. Helen beweist sich selbst ihre schon nicht mehr vorhandene Menschlichkeit, kämpft gegen Candymans scheinbare Übermacht und stirbt, um als urbane Legende wiedergeboren zu werden. Ein Sieg für das Gute? Erkundigen sie sich mal bei Ex-Ehemann Trevor...
Die grundsätzlichen Vorwürfe, "Candyman" besäße einen Antiklimax, sind formal sicherlich richtig. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß dies hier kein Horrorstandard und kein Actionreißer mit kreisenden Motorsägen ist. Die Morde, die hier gezeigt werden, sind nie Selbstzweck, sondern im Filmkontext begründet. Tatsächlich bietet der Film zum Ende hin eine nicht abreißende Reihe von kleinen Höhepunkten, die von der Psychiatersitzung ausgehen und schließlich beim Schlußgag enden. Das bedeutet nicht, der Film besäße kein Auf und Ab, eher hält er sich permanent auf einem sehr hohen Level. Schließlich bietet er sogar einen kleinen Lichtblick, der jedoch gleich darauf wieder relativiert wird.
Die meiste Kritik bekam gerade dieser Schlußgag ab, der in der Tradition der voraussagbaren Schlüsse steht und das Publikum schon zu Kinozeiten zu munterem Zahlenmitbrüllen anregte. Mal ganz abgesehen also davon, daß die Idee alt ist, hält der Film aber auch hier die Stimmung bis zur letzten Sekunde durch.
So besticht das Gesamtwerk durch ungeheure Kontinuität, die zwar durch den Wechsel nach der Hälfte gemildert, aber nicht unterbrochen wird, da immer wieder Referenzen an den urbanen Horror eingeworfen werden.
Neben "Hellraiser" sicherlich der beste Barker - eine Studie in Beton! (8,5/10)

Details
Ähnliche Filme