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Wir atmen Luft im Dunstkreis von Kriegen, Hass, Rassismus, Egoismus und Terror. Der Spiegel zeigt mitunter ein unschönes Bild des eigenen Charakters. Doppelmoral, Lügen, Intrigen. Wir leben im Hier und Jetzt, das alles andere als die Idealvorstellung der schönen heilen Welt ist. Trotzdem leben wir, körperlicher und seelischer Schmerz ist spürbar, jeder besitzt etwas wie eine Seele.

Taucht man in die Welt von „Fahrenheit 451“ ein, sieht man auf den ersten Blick nicht unbedingt den Unterschied zur Gegenwart – seinerzeit den 60er Jahren. Großbritannien im Jahre 1966 verlagert in eine zeitlich unbestimmte Zukunftsvision nach der Literaturvorlage von Ray Bradbury. Wir befinden uns in einer augenscheinlich optisch weniger befremdlichen Welt. Trotzdem ist sie völlig anders, eine Alternative zur gegenwärtig eher liberalen Ländergemeinschaft. Für Regisseur François Truffaut war „Fahrenheit 451“ der erste und letzte Science-Fiction-Film. Sein Werk ist wahrhaftig kein Spaß, vielmehr desillusionierend aber in Hinblick auf die Gegenwart freundlich gestimmt. Die Lektion über Hab und Gut, eine Meinung als Schlüssel zur Freiheit des Individuums. Bildung, das Lesen, Bücher, die Möglichkeit der Selbstbestimmung, was Glück bringt.

Die fahrenheitsche Welt hat keine Seele. Feuerwehrmänner sind die Wächter der Trostlosigkeit, es ist lange her, als sie Brände löschten und nicht legten. Ihre Aufgabe in dieser Welt ist es Bücher zu verbrennen. Truffaut, selbst ein leidenschaftlicher Leser, zelebriert den Schmerz, wenn der Scheiterhaufen mit den Manns, Machiavellis und Sartres brennt. Das Feuer verschlingt sukzessiv das geballte Wissen, Seite für Seite. Bücher machen unglücklich, generieren asoziale Wesen. Nachdenken ist Schmerz, Unwissenheit die ultimative Betäubung. Fahrenheit 451 ist die Temperatur, bei der Bücher vollständig verbrennen. Der anfänglichen Dialog zwischen dem Feuerwehrmann Guy Montag (Oskar Werner), und der Lehrerin Clarisse (Julie Christie, die hier zusätzlich als Montags Ehefrau Linda fungiert), gibt Impressionen über die Welt, in der wir über 100 Minuten von Truffaut gefangen werden. Diktiertes Wissen, seelenloses dahinvegetieren, um das grausame Leben einfacher zu gestalten. Was wollen wir? Schmerz, Emotionen oder die blanke Unkenntnis darüber, damit wir erst gar nicht in Versuchung kommen!? Wir sehen Linda, Guys Frau, die mit Drogen vollgepumpt das staatliche Fernsehen verfolgt. Sollen wir in Unwissenheit sterben, um uns Schmerzen zu ersparen?

Truffauts bzw. Bradbury Antworten sind eindeutig. Emotion statt Apathie, Anarchie statt Diktatur, Schmerz statt Betäubung. Erschreckend wird „Fahrenheit 451“ im optischen Kontext, der selten eine fremd wirkende Welt abbildet. Kühl und triste Bauten gibt es auch in einer liberalen Gesellschaft, wichtig sind Gedanken, die sich jenseits der Monotonie bewegen.
Montag hinterfragt aufgrund von Clarisses Einfluss seine eigene Person und zieht letztendlich in den Kampf gegen das, was er gelebt hat.

Truffaut erzeugt ein narratives Moloch, indem er einfache Mittel einsetzt und die Welten aufeinanderprallen lässt. Spricht die Ehefrau des Protagonisten Linda spüren wir bittere, emotionale Kälte - befragt Clarisse den Hauptdarsteller wird Normalität vermittelt. So einfach, aber ungeheuer effektiv – und nebenbei hält man uns dadurch direkt vor, wie wenig wir unsere Normalität zu schätzen wissen – die Möglichkeit der freien Äußerung und die Aussicht Gefühle zum Ausdruck zu bringen. „Fahrenheit 451“ steht für ein argumentatives Duell zwischen Freiheit, die wir in unseren Kulturkreisen mitunter doppelmoralisch erleben und Sicherheit, die im Rahmen dieser Zukunftswelt aufgrund der totalen Gefühlskontrolle und Überwachung gegeben ist. Montag steht zwischen zwei Welten und Frauen. Kampf ist Schmerz, der hier als Lebenszeichen dient. Eine schmerzvolle Erfahrung, die wir in der Gegenwart manchmal verabscheuen, vor der wir flüchten ist in Truffauts Sinne ein Gut, das wir oftmals nicht zu schätzen wissen.

Julie Christie zeigt als Clarisse und Linda beide Seiten der Medaille mit schauspielerischer Bravour. Die Kälte einer Frau in der fahrenheitschen Welt mag sie genauso an den Mann bringen wie die revolutionäre Wärme einer Lehrerin, die sich gegen die Unwissenheit und Bücherverbrennung wehrt. Oskar Werner macht dazwischen eine gleichermaßen gute Figur, die ihren inneren Kampf überzeugend zum Ausdruck bringt.

Zweifelsohne ist „Fahrenheit 451“ wegweisend visionär und wird nicht zuletzt deshalb häufig im modernen Kino zitiert. Der literarischen Vorlage von Ray Bradbury wurde von François Truffaut ein angemessenes, filmisches Fundament gebaut. Ganz im Gegensatz zur gezeigten Welt besitzt dieser Film eine Seele, mit all ihren Facetten. Selbst den Schmerz lernt man in Truffauts Händen zu lieben, schließlich möchten wir nicht teilnahmslos dahinvegetieren. Ein Plädoyer für die Absicht Freiheit zu gewähren, auch wenn man sie in der Gegenwart durch indirekte Zwänge nicht immer spüren mag. Immerhin löscht die Feuerwehr momentan noch Brände. (9/10)

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