TERJE VIGEN ist für mich einer der besten Filme der 1910er Jahre und eines der frühsten Werke, in denen die Grenze vom reinen Unterhaltungsprodukt zum Kunstwerk überschritten wurde. Inhaltlich basiert der Film auf dem gleichnamigen dramatischen Gedicht Henrik Ibsens, weshalb auch sämtliche (norwegische) Zwischentitel einzig und allein aus Zitaten bestehen, die man unverändert dem Originaltext entnommen hat.
Terje Vigen ist ein norwegischer Fischer, der mit seiner Frau und seinem kleinen Kind in einer Hütte am Meer wohnt. Zerstört wird die Idylle durch die Napoleonischen Kriege, in deren Verlauf englische Schiffe die Küste zu blockieren beginnen. Hunger und Elend breiten sich im Dorf aus. Terje wagt mit seinem Boot die gefahrvolle Reise in den Nachbarort, um sich dort mit Lebensmitteln einzudecken, mit denen er seine Familie und die restlichen Einwohner der Ortschaft vor dem Hungertod zu bewahren hofft. Auf der Rückfahrt, kurz bevor er seine heimatliche Küste erreicht, wird er von den Briten erspäht und gefangen gesetzt. Der englische Kapitän lässt sich von Terjes Bitten nicht erweichen. Nachdem man sein Boot mit dem lebensrettenden Proviant versenkte, wird er für Jahre in einen Kerker gesteckt. Erst nach Ende des Kriegs freigelassen, kehrt er in seinen Heimatort zurück, um festzustellen, dass in seiner einstigen Hütte Fremde wohnen. Man erzählt ihm, dass seine Frau und sein Kind zunächst in einem Armenhaus landeten und dort dann verhungert sind. Jahre verstreichen und Terje, ergraut und verbittert, verdient sich sein Geld als Fährmann und Lotse. Eines Tages erreicht ihn die Nachricht, dass eine englische Jacht von einem Unwetter überrascht wurde, das an der Küste tobt. Sofort sticht er in See, um dem in Not geratenen Schiff Hilfe zu leisten. Dort eingetroffen wird ihm klar, dass es sich bei dem Besitzer der Jacht um eben jenen Kapitän handelt, der ihn einst zu begnadigen weigerte. Nun sieht Terje sich dem Hass und den Rachegelüsten ausgeliefert, die sich seit Jahren in ihm angestaut haben...
Vor TERJE VIGEN drehte Victor Sjöström mehrere konventionelle, dem Massengeschmack entsprechende Filme. TERJE VIGEN bedeutet den Beginn seiner künstlerischen Karriere und einen Meilenstein innerhalb des schwedischen Films. Tatsächlich gehört TERJE VIGEN wohl zu den wenigen Stummfilmen, die einen auch heute noch so zu berühren vermögen wie sie die Zuschauer des Jahres 1917 berührten. Zum einen liegt das an der Geschichte, die Sjöström ohne die geringste Länge erzählt, recht flott und modern, ohne sich bei Details aufzuhalten, jedoch auch ohne das Wesentliche seiner Handlung aus den Augen zu verlieren. In der knappen Stunde Laufzeit findet er das perfekte Tempo, um seinen Film vor Langatmigkeiten zu bewahren. Zum andern agieren sämtliche Darsteller in einer völlig natürlichen Weise, vermeiden alle Überzogenheiten und übertriebene Gesten. Allen voran steht natürlich Sjöström selbst, der die Rolle des Terje Vigen übernahm, nachdem der eigentlich dafür vorgesehene Schauspieler erkrankte. Schon früher trat Sjöström als Schauspieler in Filmen und vor allem auf Bühnen in Erscheinung, mit der Verkörperung des Terje Vigen bietet er eine der großartigsten Leistungen seiner Karriere. So ziemlich jede Szene wird von ihm beherrscht. Obwohl seine Rolle genügend Möglichkeiten geboten hätte, sich in üblichen Klischees zu ergehen, die viele 1910er Filme heute unfreiwillig komisch erscheinen lassen, nutzt Sjöström glücklicherweise keine einzige. Sowohl den jungen Terje, der sich aus Liebe zu seiner Familie in die größten Gefahren begibt, als auch den graubärtigen, freudlosen Greis kauft man ihm problemlos ab.
Übertroffen wird Sjöströms schauspielerische Leistung höchstens von der Weise wie er das Meer inszeniert und zum zweiten Hauptdarsteller seines Films werden lässt. In poetischen Bildern wird es eingefangen, deren Schönheit einen selbst heute noch sprachlos werden lassen können, seien es nun Aufnahmen der ruhigen, friedlichen See zu Beginn oder die Schlussszenen, die inmitten des tobenden Sturms spielen. Das Meer wird zum Spiegelbild der Gefühle seines Hauptdarstellers. Überhaupt schäumt der Film vor Emotionen fast über. Sjöström war der Meinung, dass der Film, wolle er zu einer eigenständigen Kunst werden, sich nicht nur in dem Sinne auf die Literatur stützen dürfe, indem er die reine Handlung eines Stücks oder eines Romans übernimmt. Dadurch würde der Film zu einer reinen Abfolge von Aktionen werden, die dem Zuschauer keinen Stoff zum Nachdenken lieferten. Vielmehr müsse ein Filmemacher den geistigen und emotionalen Gehalt eines literarischen Werks ausschöpfen. Ohne Zweifel ist ihm das mit TERJE VIGEN gelungen.
Die gelungenste Szene ist wohl die Verfolgung Terjes durch ein englisches Boot, das seinem weit überlegen ist. Sjöström schneidet ständig zwischen den Booten hin und her, baut eine atemlose Spannung auf, die einen erst hoffen lässt, dass Terje die Küste erreicht ohne von den Briten eingeholt zu werden, und dann einer immer stärker werdenden Verzweiflung weicht, als es absehbar wird, dass er ihnen nicht entkommen kann. Erst beschießt das britische Mutterschiff ihn mit Kanonenkugeln, die ihn verfehlen. Dann erreicht ihn das englische Boot voller Soldaten, die seines versenken. Terje wird über Bord geworfen und zur Freude der Engländer gejagt, indem man mit Gewehren auf ihn zielt und zum Untertauchen zwingt, wenn er nicht erschossen werden will. Schließlich zieht man ihn entkräftet ins Boot und bringt ihn zum Schiff. Diese Szene ist wohl eine der eindrucksvollsten, die ich bisher nicht nur in einem Stummfilm gesehen habe. Gleiches lässt sich über so ziemlich alles an Sjöströms Film sagen. Von einem unerwarteten Anflug von Humor, wenn Terje den Engländern zum ersten Mal entkommt, sich in einer Bucht versteckt und sie danach verspottet, ihnen eine lange Nase macht, bis zum überraschenden Ende, das einen trotz der Traurigkeit und Schwere der Geschichte erlöst und versöhnt entlässt.