"Jacob's Ladder" ist Adrian Lyne's Name für den Prozess, den sein Protagonist Jacob Singer (Tim Robbins) im Filmverlauf durchmacht. Es geht um das Herausfinden einer Wahrheit, und zwar in Form der Suche nach der Wirklichkeit; und damit verbunden nach der Frage, ob Jacob lebt oder bereits tot ist.
Entsprechend der Thematik ist Subtilität das Zauberwort, mit dem dieses psychologische Medley aus Drama und Thriller umgesetzt wird. Die Subtilität zieht sich durch die Story, durch den Szenenverlauf, durch die Charaktere und nicht zuletzt durch die innovative Bildsprache und damit verbunden die Schockeffekte, die vor allem eines ermöglichen: eine hundertprozentige Identifikation mit Singer.
Überhaupt wird der Zuschauer einfach ins kalte Wasser geworfen. Man weiß zu keiner Zeit mehr als die Hauptfigur, steht jederzeit mit ihr zusammen inmitten von Fragezeichen und hat genau wie sie damit zu kämpfen, Fiktion und Realität auseinanderzuhalten. So begleitet man den gesamten Film über Jacob. Nie zeigt Lyne Szenen in seiner Abwesenheit. Einzig nach dem Telefonanruf seiner alten Vietnamkollegen gibt es einen etwa dreisekündigen Schwenk auf diese Kollegen ohne Jacob. Aber selbst hier bricht die Szene so abrupt ab (und zwar ohne jeglichen Dialog), dass man meinen könnte, man habe bloß Jacob's Vorstellung davon gesehen, wie sich seine ehemaligen Freunde nach dem Anruf verhalten.
Aber ich will den Leser dieser Review weniger im Dunkeln stehen lassen als Jacob Singer, deswegen hier noch einmal kurz, worum es geht.
Der Film beginnt mit Szenen aus Vietnam, die später als Prolog dargestellt werden, zunächst einmal aber auf eigenen Füßen stehen und ganz für sich sprechen, so als hätten wir es hier mit einem reinen Antikriegsfilm zu tun. Wir sehen Singer mit einigen seiner Kameraden im Lager. Es werden Scherze getrieben, es wird Gras geraucht, man verdrängt den Schrecken des Kriegs mit Lockerheit - als plötzlich der Feind angreift. Die Hölle bricht los: Kopfschüsse, zerfetzte Gliedmassen, Schreie, Kugelhagel. Wie es im Genre üblich ist, wird das Geschehen vollkommen unverblümt dargestellt. Realismus steht hier noch an vorderster Stelle, was Adrian Lyne natürlich zugute kommt, denn genau das will er in dieser Einleitung zeigen: die Realität. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Kriegsszenen wirklich geschehen sind (zumal einleitend die Orts- und Zeitfakten angegeben werden). Im Gegensatz zum normalen Kriegsfilm soll aber nicht die Sinnlosigkeit des Krieges thematisiert werden; nein, für die Zwecke des Filmes reicht es, zu zeigen, dass dies der reale Ursprungspunkt der Geschichte ist und dass alles Weitere hierauf aufbaut.
Der Prolog endet damit, dass Jacob ein Bajonett in den Unterleib gerammt bekommt und er plötzlich in der U-Bahn erschrocken aufwacht. Er hat von seiner Vergangenheit geträumt.
Bezeichnend ist, dass dieser Traum in seiner Komposition deutlich realer aussieht als die Wirklichkeit, die der Zuschauer nun zu Gesicht bekommt. Hier ist alles neblig, unklar, mit diffusem Licht versehen. Die U-Bahn wirkt wie ein Gefährt direkt in den düsteren Schlund der Hölle, in einem unruhestiftenden Takt verdunkelt sich die Szenerie pulsartig bei der Fahrt durch unbeleuchtete Abschnitte. Eine Passantin reagiert unwirklich auf Jacob's Frage, ob er seine Station bereits verpasst hat, nämlich nur mit einem stieren Blick. Dann die erste Vision: beim Aussteigen aus der Bahn erkennt Jacob unter der Decke eines vermummten Penners eine Art Reptilienschwanz, der hin- und herschlagend unter der Decke hervorlugt.
Weitere unheimliche Dinge folgen. Der Bahnsteig ist vollkommen menschenleer, der Ausgang nach oben verschlossen. Jacob wagt sich auf die Schienen und wird beinahe von einem heranbrausenden Zug überrollt. Er stürzt und sieht im Vorbeirauschen am Fenster die Silhouetten von Menschen, die wie verlorene Seelen in einer Reihe am Fenster stehen. Am Ende winkt ihm eine dieser Silhouetten zu. Doch all das bleibt noch zu subtil, um sagen zu können, dass Jacob wirklich Visionen hatte.
Als Jacob heimkommt, erfahren wir im Gespräch mit seiner Frau persönliche Dinge über ihn. Er hat Kinder aus einer früheren Ehe, von denen eines (Macaulay Culkin) bei einem Unfall ums Leben kam. Er hat Medizin studiert, ist aber nach dem Vietnamerlebnis Postbote geworden, weil er nicht mehr nachdenken wollte. Er ist stets verspannt und hat in seinem Chiropraktiker die einzige vertraute Konstante, die ihm nicht einmal seine Frau bieten kann.
Als dann die Visionen deutlicher und schockierender werden, wird die Vergangenheit wieder aufgegriffen. Ein Vietnamfreund ruft an und bittet um ein Treffen. Er hat die gleichen Visionen wie Jacob, was ein Hinweis darauf ist, dass verbotene Experimente der Army der Auslöser dafür sind, dass Jacob Fiktion und Realität nicht mehr auseinanderhalten kann. Lyne lockt den Zuschauer gekonnt auf eine falsche Fährte, genauso wie sein Hauptdarsteller auf eine falsche Fährte gelockt wird. Obwohl die Sache mit den Experimenten auch am Ende noch steht, ist es nicht ganz so, wie man denkt.
Überhaupt vermischen sich die Dimensionen der Wahrheit und die der Vorstellungskraft Jacobs im Folgenden verstärkt. Hier spielt der Film nun visuell sein volles Potential ab. Nicht umsonst bekennen sich die Macher der "Silent Hill"-Computerspielreihe dazu, von Lynes Werk inspiriert worden zu sein. Die Subtilität der Ereignisse bleibt bis heute unübertroffen. Die Schocks sind so wirksam, weil man sich nie sicher sein kann, ob das Gezeigte gerade passiert oder nicht. Wie gesagt, die Identifikation mit Jacob gelingt in einer Perfektion, die es möglich macht, dass man sich selbst nicht in der Lage ist, zu identifizieren, was man eigentlich gerade gesehen hat. Da grinsen ihn gesichtslose Fratzen aus einem schwarzen Auto an, seine Frau wird auf einer Party freiwillig von einem Monster vergewaltigt (was ja eigentlich ein Widerspruch in sich ist), während Raben über seinem Kopf kreisen und im Hintergrund ein Mann sitzt, dessen Kopf mit einer unglaublichen Geschwindigkeit hin- und herwackelt, nach einem Unfall wird Jacob von dubiosen Krankenpflegern durch unsterile Gänge quasi direkt in die Hölle transportiert, dann ist sein Chiropraktiker plötzlich tot, bevor er putzmunter in sein Zimmer stürmt und ihn entrüstet ob seiner Behandlung aus dem Krankenhaus entführt.
Der gesamte Plot spielt sich also, wie man bald feststellen wird, auf einer Metaebene ab. Und das ist noch nicht alles: durch einen Fieberanfall und die Notversorgung in einem Eisbad wird Jacob direkt in eine Meta-Meta-Ebene befördert, in der er mit seiner früheren Ehefrau zusammenlebt und alles Vorhergehende nur geträumt hat. Sein Sohn ist wohlauf und er singt ihn in den Schlaf, bevor Jacob wieder in die Metaebene zurückkehrt - mit einer Kameraeinstellung, die ganz nah auf sein Gesicht hält und sich dann immer weiter zurückzieht, als Jacob langsam begreift, wo er sich befindet.
Mitten in dem Chaos kommt Jacob dann aber langsam der Wahrheit auf die Spur, und zwar nicht zufälligerweise in einem Gespräch mit seinem einzigen Vertrauten, den er dann metaphorisch bei einer Behandlung der Verspannungen als Engel bezeichnet. Der Kampf mit den (gesichtslosen) Dämonen wird als Auslegungssache definiert, da sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet auch Engel sein könnten. Sinn dieses Gespräches ist es, Jacobs Kampf darzustellen und die Aufforderung seines Freundes, sich fallen zu lassen. Allerdings gibt es an dieser Stelle noch etliche Wendungen, die alles wieder in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Der symbolische Gang die Treppe hinauf in die belichtete obere Etage mit seinem Sohn und der abschließende Wechsel wieder in die Realität, wo dann alle Verwirrungen aufgelöst werden, machen dieses vielschichtige Drama Lynes zu einem abgeschlossenen Werk, über das es sich lohnt, nachzudenken. Ähnlich, wie das Wachowski-Werk "Matrix" die sich scheinbar ausschließenden Komponenten Action und Philosophie miteinander vereinten, gelingt es Lyne hier, Horror- und Schockelemente mit der Psychologie des Menschen zu verbinden. Ein großartiger Film, dem nur Details die Höchstpunktzahl verwehren und der trotz eines gewissen Einflusses auf die Nachwelt undankbarerweise immer noch nur als Geheimtipp gehandelt wird.
9,5/10