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Die guten, alten Studentenkinozeiten sind vorbei, wie es manchmal scheint – eine Subkultur wie die der 70er und 80er, in der man einigermaßen bekifft oder angesoffen in einem Uni- oder Programmkino auf der Mitternachtsschiene Filme wie „Kooyanisquatsi“ eingepfiffen hat, um sich seine eigene Theorie von der Welt und ihrer Zukunft zu stricken, gibt es heute nicht mehr oder zumindest nicht mehr so offensichtlich.
Die kleinen, feinen Nischenfilme, die uns entweder den Spiegel vorhielten oder nicht so sehr darauf achteten, daß wir es ja gewöhnt waren, einen nachvollziehbaren Plot präsentiert zu bekommen. Damals schienen die Leute offen, heute fühlen sie sich von so viel renegatem Freigeist beleidigt.

Schön zu sehen, daß in der Asche dieser Zeit zumindest noch ein paar Kohlestückchen glühen, denn mit „The Fall“, dem zweiten Film von Tarsem Singh, kann man wenigstens streckenweise einen Ausflug in diese verlorene Zeit machen.
Gute sechs Jahre hat es gedauert, bis Tarsem nach seinem Erstling „The Cell“ wieder einen Film machen konnte oder durfte, obwohl sein Debut weder ein totaler Flop an der Kasse noch schnell zu vergessen gewesen wäre.
Angesichts der Genrezuordnung (Serienkiller-Thriller) war er ein Rohrkrepierer und mit Jennifer Lopez hatte er genau die Art von bewußtseinserweiterndem Untalent am Start, um ihn eben nicht ins Herz zu schließen, aber die Visualisierung des kranken Bewußtseins eines Mörders und das träumende Eindringen der Hauptfigur in dasselbe war eine optische Glanzleistung und bot einen (wenn auch im Vergleich zum enttäuschenden Rest) überschaubaren Vorgeschmack einer überbordenden Fantasie.

„The Fall“ holt jetzt (obwohl eigentlich schon zwei Jahre fertig) all das nach, was uns mit „The Cell“ noch vorenthalten wurde und er betont Stärken und Schwächen nur noch um so deutlicher.
Die Basisstory ist und bleibt ein angreifbares Vehikel, ein 3-Taschentücher-Drama um einen nach einem Brückensturz von der Hüfte abwärts gelähmten Stuntman, der einer Fünfjährigen im Krankenhaus eine phantastische Rachegeschichte von fünf Banditen erzählt, die einen bösen Gouverneur aus persönlichen Gründen töten wollen. Allerdings hat er dabei Hintergedanken bezüglich der Ausweglosigkeit seiner Situation und die haben mit Überdosen von Beruhigungsmitteln zu tun.

Sicherlich kein Awardmaterial, war es selten deutlicher, daß gerade die Simplizität, die schiere Emotion und die Unschuld der Geschichte nur dazu da sind, als Resonanzkörper das zu verstärken, was das Publikum hier optisch praktisch in eine andere Dimension beamt und dabei verläßt man nicht einmal den Planeten.

Die Geschichte, das Märchen von Liebe, Rache und Tod ist nämlich genau die „Tall Tale“, die übergroße und übertriebene Geschichte, um die sich Tim Burton in „Big Fish“ bemüht hat, ohne das Ziel ganz zu erreichen: unsere totale Faszination.

Gedreht in 18 Länder benutzt Tarsem mit seinen Crews praktisch den gesamten Erdball, um die Größe seiner Geschichte zu demonstrieren, eine Geschichte von Selbstüberwindung, Katharsis und unbedingtem Willen.
Gegen den Hintergrund unbändiger, monströser, unfassbarer Naturkulissen und baulicher Monumente meisterhafter Architektur rollen die einzelnen Szenen ab, stilisiert, nur erfüllt durch die mitunter miniaturisiert kleinen Darsteller.
Orange leuchtende Wüsten, ein Schmetterlingsatoll; Felsenwüsten, die sich in Gräsermeere verwandeln, opulente Paläste asiatischem oder europäischem Zuschnitts, Burgen, Schlösser, Tempel und Festung gegen eine stahlblauen Himmel, wie eingefroren in der Zeit und doch allesamt reelle Orte und Dinge dieses Planeten, kombiniert durch Kamera und Schnitt.
Die Intensität und Natürlichkeit der Bilder erschlägt den Zuschauer praktisch und dagegen setzt Tarsem (wie im Vorgänger) surreale oder verfremdende Elemente, mischt Zeiten und Epochen, läßt Hundertschaften schwarzer Wächter in Rüstungen aufmarschieren, die wie Hunde bellen; inszeniert den einzigen Auftritt einer Frau wie eine Mischung aus asiatischer Verhüllung, feenhafter Verzückung und fetischisierter Ausschmückung.
Und auch die fünf Protagonisten heben sich von den Hintergründen in nicht zu determinierender Zeitlosigkeit ab: der bizarre Freibeuterbandit, der venezianisch wirkende Sprengstoffexperte, der junge Charles Darwin mit seinem Mantel aus bunten Federn, der grimmige Inder, der gehörnte Sklave oder als Ergänzung der zerzauste Mystiker, der sich aus dem Inneren eines Baums schält.

Diese „Tall Tale“ wächst mit der Filmhandlung und der Zuschauer muß mitwachsen, denn erst nach und nach wird offensichtlich, daß Elemente aus dem realen Krankenhausalltag in das Märchengeschehen mit einfließen, Figuren realen Personen nachgebildet sind. Die Geschichte unterliegt den Händen des Erzählers und immer wieder springen wir mit ihm hinein und oft abrupt wieder heraus.

Dagegen steht das eher simple Drama eines Suizidgefährdeten (dessen Unfallumfeld man im Vorfeld in einer Art entfärbter Zeitlupe zu klassischen Klängen entdecken darf, was den traumartigen Ton vorgibt) zur Zeit der Slapstick-Stummfilmkomödien, der durch ein Kind seinen Lebensmut zurückgewinnt.
Der Titel bezieht sich auf den doppelten (oder dreifachen) Fall: seiner von der Brücke, das Kind auf der Plantage und schließlich ein Sturz von einem Medikamentenregal – doch jede Verletzung, jeder Fall setzt die Dinge in Bewegung.

Natürlich ist das narrativ nicht unbedingt vielversprechend – der Regisseur ist selbst viel zu vernarrt in die Geschichte, um sie nicht auszuwalzen, aber wie gern möchte man ihm folgen, ist man bereit, sich darin zu verlieren wie das unschuldige Kind. Und immer wieder bricht mittels eines humorvollen Einschubs die Grimmigkeit oder traurige Schwere auf, abgesehen vom etwas zu zähen und tränenreichen Schluß, das der Story leider ein Bleikorsett anlegt, wo man sich in Höhen hätte schwingen sollen.

Tarsem hat viel gewagt und noch länger an dieser Geschichte gearbeitet, die neben den bereits genannten Bezügen einige Einflüsse von Jodorowskys surrealen Klassikern „El Topo“ und „Montana Sacra“ zu atmen scheint, allein in der Anordnung der Bilder.
„The Fall“ an sich basiert auf einem bulgarischen Film namens „Yo Ho Ho“ von 1981, der die gleiche Story erzählte, doch das Besondere hier sind die Bilder, die man aus ihr destilliert hat.

Sicherlich, der Film ist und bleibt ein Nischenprodukt, aber auch eine Herzensangelegenheit, ein geheimer Traum, den sich ein Filmemacher erfüllt hat und wer am Knochen Handlung nagen möchte, soll riskieren, daran zu ersticken. Der leuchtenden Pracht dieses Films allerdings den Einsatz im Kinopalast versagen zu wollen, heißt einfach nur, nichts verstanden zu haben, denn wo sollten sich all diese Wunder entfalten, wenn nicht in der Dunkelheit des Saals und auf einer endlos großen Leinwand – für so etwas wurde Kino gemacht.
Und damit sind wir wieder in den 80ern – hinter uns die große Multiplexpopcornmaschinerie, die sich um ihre Auslastung sorgt und nicht weiß, welcher Zielgruppe sie diesen Film zuschieben soll. Schon das ein Sakrileg – kehre zurück, Mitternachtsschiene, alles vergeben! (9/10)

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