Zwischen den vielen belanglosen Filmen, die in den 60er Jahren in Deutschland entstanden sind, befinden sich wenige seltene Juwelen, die schwer zu entdecken sind. Es sind Filme, die in ihrer Gestaltung überraschend sind - nicht etwa in ihrer besonders künstlerischen Machart, sondern in ihrer Abkehr von allem, was in der Regel deutschen Filmen nachgesagt wird. Sie sind unterhaltend, aber nie dümmlich oder sich an den Zeitgeist anbiedernd, sie sind realistisch, aber ohne Pathos oder schulmeisterlichen Zeigefinger, sie erzählen eine spannende,geradlinige Geschichte und sie verfügen über Schauspieler mit Charisma.
Um ein solch seltenes Juwel handelt es sich bei "Polizeirevier Davidswache St.Pauli". Ein deutscher Film, der seine Wurzeln nicht verbirgt und trotzdem nicht im Sumpf der anständigen deutschen Bürgerlichkeit verschwindet, obwohl er sich dafür das denkbar geeigneteste Thema ausgesucht hat - das Leben auf der Reeperbahn, kulminierend in der zentral gelegenen Polizeiwache.
Was hätte man alles daraus machen können ? - Schicksalshafte Geschichten über gefallene Seelen mit einem äußerlich liberalen Anstrich, bei denen die moralische Keule im Hintergrund mitschwingt. Abenteuerliche Polizeifälle zu Bandenkriminalität, Schutzgelderpressung und Prostitution von Minderjährigen mit toughen Kriminalbeamten, die in der Unterwelt aufräumen. Pseudo-komische Stories über Touristen, die sich ausnehmen lassen und jetzt Probleme haben, Anzeige zu erstatten, da sonst die Ehefrau zu Hause vom Ausflug auf die Reeperbahn erfährt.
Und was erzählt Jürgen Roland in seinem Film ? - Genau die oben genannten Storyelemente, nur ohne jegliche moralische Beurteilung, Heroisierung, Lächerlichmachung und sonstige Bewertung. Vielleicht kamen hier zwei glückliche Faktoren zusammen. Roland, der in Deutschland durch seine "Stahlnetz" Fernsehserie bekannt geworden war, hatte immer einen fast dokumentarischen, lakonischen Stil. Seine Filme hatten eine überzeugende Ästhetik, wirkten aber emotional immer sehr zurückhaltend. Dadurch das er sich hier einer besonders "menschlichen" Umgebung annimmt, gelingt genau die Gratwanderung zwischen einer emotional angemessenen Dramatik, einem realistischen Abbild der deutschen Wesensart und einer ohne Übertreibungen auskommenden Darstellung der tatsächlichen Mißstände.
Die eigentliche Story ist schnell erzählt und zieht drei Personen in ihren Mittelpunkt. Hauptwachtmeister Glantz (Wolfgang Kieling)hat vor 4 Jahren den Kriminellen Bruno Kapp (Günther Ungeheuer) verhaftet, der jetzt wieder aus dem Gefängnis entlassen wird. Auf ihn wartet seine Verlobte Margot (Hannelore Schroth), die ihn für einen anständigen Menschen hält. Tatsächlich ist Kapp ein brutaler Verbrecher, der dem Wachtmeister Rache für seine Verhaftung geschworen hat.
Diese Troika lebt von ihren überzeugenden Charakteren. Kieling spielt den Polizisten lakonisch ohne besondere emotionale Ausbrüche. Ihn bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Selbst die Tiraden eines Strafverteidigers vor Gericht, bei dem Glantz als Zeuge aussagen muß, lassen ihn nicht wütend werden. Dabei macht Roland durchaus klar, daß die Polizei gegenüber den Verbrechern auf verlorenem Posten steht, denn ihre Mittel sind rechtsstaatlich beschränkt. In der einzigen Szene, in der Glantz sich hinreißen läßt, ohne besondere richterliche Anordnung in ein Bordell einzudringen, weil er vermutet, daß dort eine Minderjährige zur Prostitution überredet wird, wird er gnadenlos abgewatscht - auch von dem jungen Mädchen, daß seit wenigen Tagen 18 ist.
Betrachtet man diese Szenerien, wünscht man sich diese als Anschauungsunterricht für heutige Politiker, die ständig am Überwachungsstaat drehen. Trotz der realistisch geschilderten Situation verfällt Roland keine Sekunde in Demagogie und nutzt die Probleme zur Forderung nach mehr Rechten für die Polizei. Im Gegenteil, selten habe ich eine so demokratisch agierende Polizei gesehen, die sich gleichzeitig menschlich nachvollziehbar verhält. Einzig in dieser Charakterisierung könnte man ihm ein wenig Blauäugigkeit vorwerfen, aber da er auf jegliche Heroisierung der Polizei verzichtet, empfinde ich das gerechtfertigtes Wunschdenken.
Margot, die auf Bruno wartet, verkörpert die bürgerliche Seite. Sie hat einen anständigen Beruf, ist bescheiden und träumt von einem Einfamilienhaus auf dem Land. Sie steht für die vielen tausend "normalen" Bürger des Stadtteils und man fragt sich nur, wie sie ausgerechnet an Bruno gekommen ist. Schnell wird für den Betrachter deutlich, daß sie einer naiven Täuschung obliegt und Roland hätte ihre Figur sehr einfach der Lächerlichkeit preis geben können. Gerade die Szene, als sie Bruno vom Bahnhof abholt ,ist signifikant für seinen überzeugenden Stil. Während Bruno schon überlegt, wie er möglichst schnell zu Waffen und Geld kommt, erzählt sie ihm von zugeteilten Bausparverträgen und Forelle in Aspik. Roland gelingt genau die Gratwanderung zwischen Tragik und Komik, ohne eine Seite überlegen wirken zu lassen.
Doch das alles funktioniert vor allem durch das Glanzstück der Besetzung - Günther Ungeheuer ist als Bruno Kapp eine geniale Mischung aus gutaussehendem, coolen Gentleman und einem intelligent verschlagenen Gewaltverbrecher. Immer entspannt agierend, ohne sich zu lauten Worten hinreißen zu lassen, verkörpert er genau den charismatischen Typ, dem man zutraut, einerseits brutal durchzugreifen, andererseits attraktiv auch für bürgerliche Frauen zu sein. Daraus entsteht auch eine erhebliche Spannung, denn diesem Kerl ist alles zuzutrauen.
Doch wer glaubt, die Story um die drei oben beschriebenen Personen ist das Kernstück des Films ,der irrt. Im Mittelpunkt steht das Leben auf der Reeperbahn. Roland erzählt unzählige kleine Geschichten, die sich in den zwei hier geschilderten Tagen abspielen - Szenen auf der Polizeiwache, in Bordells, Striptease- und sonstigen Lokalen, Gerichten und auf der Straße. Dabei schaut er manchmal nur Sekunden hin, ein anderes Mal zeigt er längere Sequenzen. Manchmal läßt er einen angetrunkenen Möchtegern (hervorragend Hanns Lothar)eine sich selbst sezierende Rede auf der Polizeiwache halten, manchmal zeigt er ohne Worte Straßenszenen von spielenden Kindern. Nie hat er den Anspruch, etwas zu Ende zu erzählen, er hält nur kurz drauf und erreicht dabei eine atmosphärische Dichte, wie ich sie so noch nie in einem deutschen Film dieser Zeit erlebt habe.
Fazit : Überzeugender deutscher Film aus der Mitte der 60er Jahre, bei dem sich eine Einordnung in ein bestimmtes Genre verbietet. Regisseur Jürgen Roland gelingt eine Mischung aus Dokumentation, Kriminalstory und privaten Schicksalen, die den Geist eines wirklichen demokratischen Gedankengutes atmet.
Roland ist dabei keine Sekunde vordergründig gesellschaftskritisch, aber seine Schilderung von Prostitution, Verbrechen, Drogen und beschwerlicher Polizeiarbeit ohne moralischen oder verurteilenden Gestus ist allein schon in seiner Liberalität politisch. Trotz dieses dokumentarischen Ansatzes und lakonischen Erzählstils,ist sein Schwarz-Weiß Film äußerst unterhaltend und jedem auch heute noch sehr zu empfehlen (9/10).