Nach dem phänomenalen, Rekord brechenden Triumphzug seines ersten abendfüllenden Zeichentrickfilms „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ war Walt Disney mehr denn je angespornt seine Visionen zu verwirklichen und dabei immer auf den neuesten Stand der Technik zu setzen. Wie schon beim Vorgänger entnimmt er die Story einer berühmten Vorlage und macht in dieser Hinsicht alles richtig. Carlo Collodis fantasievolle Parabel „Pinocchio“ wird reduziert auf ihren Kerngedanken und die prägnantesten Stationen in der Odyssee der Hauptfigur, insgesamt geht Disney mit der Vorlage relativ frei um, ohne sich jemals der Verfälschung schuldig zu machen. Als Regisseur schon lange nur noch sporadisch tätig, überwachte der Meister die Produktion in jedem Detail, der Film avancierte zum echten Herzensprojekt.
„Pinocchio“ war der erste abendfüllende Zeichentrickfilm, der durch den mühevollen Einsatz einer Multiplan-Kamera mit plastischer Tiefendarstellung und dem Gefühl echter Räumlichkeit aufwarten kann. Diese Methode hatte man bereits am Kurzfilmklassiker „Die alte Mühle“ aus dem Jahr 1939 erfolgreich angewandt, hier kommt die damals innovative Technik dem Film sehr zu gute. Anders als noch sein Vorgänger „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ vermittelt „Pinocchio“ somit als erster Langfilm jene zeitlose Genialität, für die die Disney-Meisterwerke bis heute bekannt sind. Selbst Klassiker der 40er und 50er Jahre haben mich als Kind der frühen 90er noch schwer beeindruckt und bestens unterhalten.
Die pädagogische Intention des Films entspricht vollends dem patriotisch-konservativen Wertesystem seines geistigen Vaters und beweist durch offensichtlich unterdrückte sexuelle Symbolik seinen, durchaus als scheinheilig zu betrachtenden, moralisierenden Standpunkt. Schon die Literaturvorlage wurde in diese Richtung interpretiert, schon die phallisch anmutende, länger werdende Nase steht für die unterdrückten sexuellen Begierden als etwas Verurteilenswertes. Pinocchio erkennt, nachdem er sich diversen Versuchungen hingegeben hat, dass sein Seelenheil nur in der Anpassung an die gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen zu finden ist. Während der Individualismus etwas zurückstecken muss, kristallisiert der Handlungsverlauf eindeutig puritanische Ideale wie Zurückhaltung, harte und ehrliche Arbeit und der Tatsache, dass offenbar jeder bekommt was er verdient.
Doch Pinocchio lernt auch eine andere wichtige Lektion, die nicht so oberflächlich vermittelt wird und dem Kinderauge meist verborgen bleibt: Leben heißt Leiden. Letztendlich endet die Geschichte natürlich positiv, was dem humanistischen Grundgedanken konsequent entspricht und nicht einfach nur überzuckerter Kitsch ist. Im Gegenteil, gerade die beherzte Emotionalität schafft es wirklich den Zuschauer zu berühren und mitzureißen. Das Faible für Kleinigkeiten erkennt man auch in diesem Disneyfilm wieder überdeutlich, zu heimlichen Stars werden Randfiguren wie die Katze und der Goldfisch Gepettos, die mit kleinsten Szenen und liebevoll gestalteten Gestiken das Herz des Zuschauers gewinnen. In heutigen Produktionen hält man sich immer noch an dieses hier erstmals wirklich umgesetzte Konzept und lässt die Nebenfiguren skurriler denn je erscheinen.
Oscars gab es für die stimmige Originalmusik sowie für den besten Song „Wish Upon a Star“, wie auch die anderen Meisterwerke und Spielfilme aus der Disney-Produktionsstätte wartet „Pinocchio“ mit eleganter Musikalität auf, unterbricht trotz vieler Gesangseinlagen aber nie den Erzählfluss. Insgesamt sind die zahlreichen musikalischen Sequenzen fein in die Handlung eingesponnen und funktionieren allesamt. Die Stimmung wird nachhaltig geprägt von diesen Songs, genauso wie von der einfallsreichen Farbdramaturgie. Mit warmen, einladenden Farben versehen wirken vor allem die heimischen Szenen in Gepettos Haus, bösartig grell muten dagegen die beinahe gleichen Farben in der artistischen Vorführung, für die Pinocchio missbraucht wird. Gegen Ende häufen sich zusehends dunkle, teilweise verstörend suggestive Bildkompositionen die ihren Höhepunkt auf dem Weg zur bizarren Vergnügungsinsel finden und natürlich in der berühmten Sequenz im Inneren des Wals. Abschließend gibt der Film nochmals Gas und beeindruckt mit abenteuerlichem Seegang, der Weg aus dem Wal heraus stellt sich als letztes Hindernis für das sichere Happy End.
Fazit: Walt Disney erstes richtiges Langfilm-Meisterwerk. War schon der Vorgänger von überragender Qualität, so besticht „Pinocchio“ mit einer ausgefeilten Dramaturgie, wegweisender technischer Perfektion und nicht zuletzt mit einer nie da gewesenen Doppeldeutigkeit. Ein ästhetisch und formal perfektes Meisterwerk an dem man nur schwer vorbei kommt.
9,5 / 10
Heute gilt „Pinocchio“ als inspirierender Meilenstein des Zeichentrickkinos, der höchstens von den Meisterwerken „Fantasia“ und „Das Dschungelbuch“ übertroffen wurde und dem Stil der Disneyfilme für immer eine Messlatte bedeuten wird. Filmemacher von Wolfgang Reithermann (der selbst untergeordnet am Film beteiligt war) bis hin zu heutigen Größen wie Jeffrey Katzenberg, der „Pinocchio“ als besten Zeichentrickfilm aller Zeiten bezeichnete. Gesprochen wird Pinocchio in der deutschen Fassung übrigens von Oliver Rohrbeck alias Justus Jonas aus „Die drei ???“. Die erste deutsche Synchronfassung aus den 50er Jahren darf aus lizenzrechtlichen Gründen schon Jahrzehnte nicht mehr benutzt werden und gilt als vollständig aus dem Verkehr gezogen.