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Für die meisten Menschen beginnt das Leben mit der Geburt und endet mit dem Tod. Nicht jedoch für alle, denn es gibt vereinzelt Exemplare der Spezies Homo sapiens, die bereits vor ihrem letzten Atemzug innerlich schon vollkommen leblos- nur noch eine Hülle ihrer selbst- sind. Von genau solch einem Exemplar handelt die Geschichte, die uns der französische Filmemacher Gaspar Noé mit „Menschenfeind“ (Seul contre tous) präsentiert.

Noch vor seinem skandalumwitterten „Irreversible“ gelang Gaspar Noé mit „Menschenfeind“ ein zutiefst aufwühlender Film, der seine Zuschauer in die Abgründe einer zerrütteten, einsamen Menschenseele reißt. Im Mittelpunkt steht ein arbeitsloser Pferdemetzger aus der Umgebung von Paris, dessen Leben alles andere als rosig verläuft: In der Jugend die Eltern nie richtig kennen gelernt, im Heim vergewaltigt, später von seiner Ehefrau mit einem Kind sitzen gelassen und anschließend wegen eines Mordversuchs verurteilt. So sehen nur einige Stationen des traurigen Werdegangs aus. Doch er hat beschlossen, sein Leben zu ändern. Deshalb verlässt er seine zweite Ehefrau, zieht zurück in die Geburtsstadt und versucht dort von neuem zu beginnen.

Eines klar vorweg: „Menschenfeind“ ist sicherlich nichts für jedermann. Der normale Kinogänger, der meist nicht mehr als ein bisschen Zerstreuung vom Alltag sucht, ist hier definitiv an der falschen Adresse. Zu tiefgründig deprimierend (wenn auch durchaus reizvoll) präsentiert sich Noés Regiearbeit aus dem Jahre 1998. Doch jeder Zuschauer, der sich auf unkonventionelle Werke einzulassen vermag, wird auf eine eigentümliche Art und Weise entlohnt. Man schaltet den Fernseher nicht mit dem angenehmen Gefühl aus, einfach einen guten Film gesehen zu haben. Aber man ist sicher, etwas anderem, etwas besonderem und gleichzeitig sehr verstörendem beigewohnt zu haben, was die Erfahrung wert war und noch lange in den Gehirnwindungen herumspuken wird.

Der Grundtenor legt sich bereits zu Anfang scheinbar wie von selbst fest. Mit sonor tristem Klang berichtet die Stimme des Pferdemetzgers über eine kurze Montage gelegt von seinem bisherigen Leben. Bereits zu diesem Zeitpunkt offenbart sich eine aus den Fugen geratene Welt, die vom Elend geprägt ist. Passend dazu wählt Noé als Setting von „Menschenfeind“ die Elendsquartiere der Pariser Unterschicht, die mit dem beklemmenden Thema des Werks perfekt harmonieren.

Noé gelingt es, das Publikum mit jeder vergehenden Filmminute stärker in seinen Bann zu ziehen. Schleichen sich zu Beginn noch Zweifel ein, ob man einen 90-Minüter über einen Pferdemetzger, der sein Leben ändern will, sehen möchte, so wird man doch schließlich von einer kontinuierlich steigenden, bis ins Extreme gehenden Anspannung gepackt. Gleich einem ladenden Akku wird von Minute zu Minute mehr knisternde Elektrizität aufgebaut, was schließlich in einem Herzschlagfinale, bei dem der Mund förmlich offen stehen bleibt, kulminiert.

Müsste ich „Menschenfeind“ mit einem einzigen Wort beschreiben, käme mir wahrscheinlich nur „pessimistisch“ in den Sinn. Es trieft dem Werk aus allen Poren, sowohl die eingefangenen Bilder als auch die gesprochene Sprache sind so eng mit diesem Adjektiv verknüpft, dass es einem fast unheimlich erscheint. Besonders eindringlich schleudert uns natürlich der Protagonist seine pessimistischen Weltansichten um die Ohren, wenn er immer wieder aufs Neue verkündet, dass der Mensch nur zum ficken- zur schnöden Reproduktion- geboren wird. Werte und Emotionen erfahren eine Demontage bis zum bitteren Ende. So gehen die verbalen Angriffe des Protagonisten ebenfalls gegen Familienbande und Freunde, die einzig auf den eigenen Nutzen, den sie aus der Existenz des anderen ziehen, bedacht seien. Solch ein Weltbild entsteht hier durch Schicksalsschläge und Zurückweisungen, die dazu fähig sind, jeden in seinem tiefsten Inneren für immer zu verändern.

Eine Glanzleistung legt Noés Stammschauspieler Philippe Nahon (Haute Tension, Carne & Irreversible) hin. Die Gefühle des Zuschauers ihm gegenüber schwanken von starkem Abscheu bis hin zu Verständnis und sogar Mitleid. Dies gelingt ihm ohne großes Minenspiel. Im Gegenteil: Sein Gesicht wirkt stets emotionslos, nur der ständig begleitende Voice/ Over des Protagonisten lässt Anklänge von Gefühlen wie Wut oder Aufregung durchblicken.
Eine echte positive Emotion- auch die einzige- zeigt sich erst zum Ende: Vater und Tochter umarmen sich stürmisch, was nach der Achterbahnfahrt der vorhergegangenen 85 Minuten vollkommen surreal erscheint und das einzig wirklich optimistisch stimmende ist.

Persönlich finde ich Gaspar Noés „Menschenfeind“ besser als seinen wahrscheinlich viel bekannteren Skandalstreifen „Irreversible“ mit Monica Belucci und Vincent Cassel. Der Film berührt und geht tief unter die Haut. Jedoch muss man sich auf ihn einlassen, um ihm etwas abgewinnen zu können.

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