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Italien fällt schon beinahe aus seinem filmische Rahmen wenn es heute einen Genre-Film produziert. Eines der einst produktivsten Filmländer der Welt, jährlich verantwortlich für unzählige Horrorfilme, Thriller, Exploitation-Reißer und Western hat sich beinahe vollständig von der abseitigen Filmkunst verabschiedet und ergeht sich in ermüdend biederer Arthouse-Kost. Weder junge Nachwuchsfilmer noch die Großen vergangener Tage wie Dario Argento konnten bei dem Versuch, dem traditionsreichen Genre-Kino ihres Landes neues Leben einzuhauchen Erfolge verbuchen. Hoffnungsvolle Talente wie Michele Soavi drehen beinahe ausschließlich fürs Fernsehen. Und überdies war ein nicht unbeträchtlicher Teil der mageren Ausbeute die sich seit dem Tod der mediterranen Filmindustrie Ende der Achtziger angesammelt hat, schlicht kaum zu gebrauchen. Dennoch stirbt die Hoffnung zuletzt. Als eine kleine Hoffnung erschien auch Alex Infascelli als er 2001 mit seinem Spielfilm-Debüt „Almost Blue“ im hochmodernen Gewand und Videoclip-Ästhetik wohlige Erinnerungen an vergangene Zeiten weckte. Doch jener untergegangene Film scheiterte auf halber Strecke an einer bedauerlichen dramaturgischen Inkonsequenz und biederte sich über weite Strecken gefährlich nahe an das Kino von Infascellis kurzzeitigem Mentor David Fincher (dem er bei einigen Musikvideos assistierte) an. „H2 Odio“, von mir sehnlichst erwartet spielt allerdings in einer weit aussichtsreicheren Liga und lässt schon in „Almost Blue“ retrospektiv erkennen das Alex Infascelli seinerzeit begonnen hatte, einen eigenen, souveränen Stil zu entwickeln.

Fünf miteinander bekannte- weniger befreundete- junge Frauen- Olivia, Ana, Nicole, Christina und Summer beschließen gemeinsam den etwas anderen „Urlaub“- auf einer kleinen Insel vor der Küste wollen sie eine radikale Diät über eine Woche durchführen deren wesentlichste Regel der völlige Verzicht auf Nahrung ist. Nur Wasser darf in unbegrenzter Menge getrunken werden. Während die übrigen vier Frauen bald beginnen, sich zu langweilen und ihre guten Vorsätze hinter sich lassen wird Olivia von traumatischen Erinnerungen an ihre tote Schwester Helena geplagt, die zunehmend infernalische Ausmaße annehmen. Immer mehr spaltet sich ihre Persönlichkeit und bald richtet sich Helenas Rachsucht in Olivia gegen die anderen Frauen…

Was sich vergleichsweise konventionell liest dient Infascelli als Fundament für eine wilde Collage stilisierter Bilder und elektronischer Klänge die sich weniger der genregemäßen Erzählung einer fesselnden „Zehn kleine Negerlein“-Variation als vielmehr der Schizophrenie von Olivia bestmöglich anzunähern versucht. „H2 Odio“ wurde eigens für den DVD-Markt mit einem Budget von etwa einer Million Euro produziert. Der Film selbst verleugnet diesen Umstand allerdings vehement und mit Erfolg. Mit einer hervorragenden Darstellerriege und bestem Equipment auf HD und im Breitwandformat gedreht wirkt Infascellis dritter Film durch und durch wie ein reinrassiger, edler 35mm-Kinofilm und zu keinem Zeitpunkt wie das was man gemeinhin verächtlich als „Direct-to-video“-Produkt abwinkt. Aufgrund seines fotographischen, oft beinahe antinarrativen Charakters fällt es auch schwer, „H2 Odio“ in ein bestimmtes Subgenre einzuordnen. Psychodrama bringt das traumartige, gelegentlich surreale Werk am ehesten auf den Punkt.

Die bodenständigen, erzählerischen Szenen die die Handlung vorantreiben werden permanent von ausgedehnten Bilderkaskaden durchbrochen in denen Infascelli exzessiv von den breit gefächerten Möglichkeiten des Schnitts und der Nachbearbeitung Gebrauch macht- ohne allerdings der Versuchung der aufdringlichen digitalen Farb- und Lichtkorrektur zu verfallen. Mit zahlreichen virtuosen Schnitten, Verdoppelungs- und Überblendungseffekten gelingt ihm eine beinahe physische, hypnotische Transformierung der zunehmend absurd erscheinenden Situation der vier Frauen auf die Leinwand die glänzend von den minimalistischen, verzerrten E-Gitarren- und Synthesizer-Klängen der Gruppe „Harvestman“ untermalt wird. Und vor allem der zunehmende psychische und emotionale Zerfall von Olivia wird mithilfe teils einfacher Mittel- die erwähnten Verdoppelungen der Bildebenen- und auch subtileren Symbolen wie wechselnden Farben greifbar.

So wird eine seltsame, suggestive und schwer zu definierende Stimmung der Entrücktheit erzeugt die sich nicht alleine auf den entlegenen, idyllischen Schauplatz beschränkt- wobei die Außen- mit den Innenaufnahmen der kantig-gläsernen, modernen Villa reizvoll brechen. Wer nun anstrengendes Experimentalkino befürchtet kann aber entwarnt werden: Auch wenn ein Kunstfilm offensichtlich Infascellis Ziel war so vernachlässigt er doch seine spannende Geschichte nicht. Als Psychothriller funktioniert „H2 Odio“ ebenfalls ausgezeichnet und schlägt den Zuschauer jederzeit in seinen Bann. Und das obwohl die Protagonistinnen nicht als authentische Figuren sondern stilisierte Kunstfiguren- man ist beinahe versucht von „Porzellanfiguren“zu sprechen- angelegt sind. Vielleicht ist es das lebendige Spiel der Darstellerinnen das den Film vor der Affektiertheit rettet. In der Rolle der Olivia überzeugt Chiara Conti die zuletzt auch in Dario Argentos TV-Film „Do you like Hitchcock“ zu sehen war, die schöne Anapola Mushkadiz kennt man aus Carlos Reygadas' umstrittenen „Battle in Heaven“. Letztere hat eine wundervolle Sequenz in der sie sich mit umgeschnallten Schmetterlingsflügeln einen Baumstamm liebkost. Glücklicherweise wurde auf englisch gedreht was durch die verschiedenen Nationalitäten und Akzente der Besetzung einen zusätzlichen Reiz gewinnt.

Im finalen Drittel schlägt Infascelli eher konventionelle Wege ein und streut einige herbe Schocks ein bei deren Umsetzung auch der sonst eher unterbeschäftigte Sergio Stivaletti (Italiens Splatter-Designer Nr. 1) zum Zuge kam. Auch hier muss man Alex Infascelli ein Lob aussprechen da er zugunsten des sonst eher zurückhaltenden Filmes auf breit ausgespielte Blutsudeleien verzichtet die sicherlich eher deplaziert gewirkt hätten.

„H2 Odio“ lebt primär von seiner glasklaren, überragenden Optik- die das Scope-Bild bestens ausnutzt- und den begleitenden minimalistischen Elektro-Klanginstallationen der Gruppe „Harvestman“. Das angenehme dabei ist aber dass diese Optik- die nicht selten den Eindruck einer animierten Fotocollage erweckt- nie zum Selbstzweck verkommt sondern sich stets der wirkungsvollen Umsetzung der Grundmotive unterordnet. Nicht Form über Inhalt sondern Inhalt via Form. Das rückt Alex Infascellis faszinierenden Psychothriller wiederum in die Nähe der Filme Dario Argentos der stets ähnlich vorging. Das in den Titel integrierte H2O, das Wasser, wird zum programmatischen formalen Oberpunkt. Wer nach glaubwürdig gezeichneten Figuren oder einer streng narrativ präsentierten Geschichte sucht wird in „H2 Odio“ nicht fündig werden. Auch wenn es sich letztendlich sicher um einen unterhaltsamen Genre-Film handelt überrascht er mit einer erstaunlichen Studie von Schizophrenie und einigen satirischen Seitenhieben auf den therapeutisch verkrampften „Discover yourself“-Wahn unserer Zeit. All das ist eingebettet in ein seltsames Grundgerüst das rhythmisch zwischen visionären und pragmatischen Szenen schwankt und durch minutiöse Montage und Detailreichtum vielleicht sogar unbewusst die Identifikation mit Olivia und auch den anderen vier Frauen erleichtert- ohne das der sinnliche Film zu irgend einem Zeitpunkt ein sonderlich emotionales Erlebnis wäre. Ein Erlebnis ist er, als Kunstwerk betrachtet, aber durchaus. Und sicherlich einer der interessantesten und ambitioniertesten italienischen Genre-Filme der letzten Jahre der auch die letzten drei enttäuschenden Werke des Meisters- Dario Argento- beschämend in die Ecke verweist. Kein El Dorado aber doch eine inzwischen selten gewordene Freude für Freunde des mediterranen Thrillers. Und moderne Pop Art.

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