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Die Sonne geht unter, taucht Karussells am Strand in ein fahles, dennoch romantisches Licht, während rechts und links Pferde erschossen werden. Tausende von Soldaten versammeln sich am Meer. Die Flucht wird vorbereitet.
Robbie Turner (James McAvoy) ist in Dünkirchen angelangt.

Regisseur Joe Wright (Pride and Prejudice) zeigt in dieser fünfminütigen Plansequenz eine Welt, die in ein irrationales Chaos verfallen ist. Dabei ist die Tragödie, die das Schicksal Robbies und Cecilias (Keira Knightley) bestimmt, nicht der Krieg. Es ist eine einfache Lüge, ausgesprochen von einem gelangweilten, neugierigen Kind.

Kurz vor dem Kriegsausbruch beginnt "Atonement" (wörtl.: Sühne) auf dem Landsitz der Familie Tallis im Süden Englands. Die 13-jährige Briony will Schriftstellerin werden. Zu Gleichaltrigen hat sie kaum eine Beziehung, dafür aber zu dem etwas älteren Robbie, dem Sohn der Wirtschafterin. Nachdem Briony Zeugin der Annäherungen zwischen Cecilia und Robbie wird, bezichtigt sie diesen der Vergewaltigung eines anderen Mädchens. Nach drei Jahren Gefängnis zieht Robbie in den Krieg.

Insektengeräusche, sowie die alles umgebende schwüle Sommerzeit bestimmen diesen ersten Teil des Films. Zumeist aus der Sicht Brionys erzählt, dominiert ihr musikalisches Thema die unheilvolle Atmosphäre. Es ist ein leichtes, geheimnisvolles Klavierstück, das immer wieder von den Aufschlägen imaginärer Schreibmaschinenhebel auf Papier begleitet wird, als würde man Brionys Gehirn bei der Arbeit zuhören, während es die nächste Geschichte erfindet. So wird ihrem Charakter trotz der Präsenz der Liebesgeschichte das nötige Gewicht verliehen. Der Titel bezieht sich schließlich auf sie. Nachdem harten Schnitt von Dünkirchen sehen wir sie wieder. Anstatt nach Cambridge zu gehen wird sie Krankenschwester. Sie hat ihren Fehler erkannt, will Sühne leisten.

Viel wird über die Leistung Keira Knightleys in dieser tragischen Liebesgeschichte geschrieben werden, schon jetzt taucht sie in den Oscar-Spekulationen auf. Dabei ist der interessanteste Charakter des Films Briony. Mehrmals spielt Wright eine Szene aus ihrer Sicht ab, um dann den Point of View zu wechseln, die Szene noch einmal zu zeigen, etwa aus der Sicht Robbies. Diese Relativierung der wahrgenommenen „Wahrheit" erhält gegen Ende, wenn die entscheidende Wende erfolgt, der die Worte „plot twist" niemals gerecht werden könnten, eine ganz neue Bedeutung. Christopher Hampton (Dangerous Liaisons) zeigt hier wieder einmal, was für ein herausragender Drehbuchautor er doch ist. Kein einziger Zeitsprung oder Perspektivwechsel wirkt redundant und unnötig. Die komplizierte Konstruktion dient nicht einfach nur der Demonstration der eigenen Cleverness, sondern ist ein Teil des Gesamtkonzeptes, welcher durch das Ende gerechtfertigt wird.

Während Pride and Prejudice vor allem mit seinen Äußerlichkeiten punktete und geradezu nach der harten Bewertung „style-over-substance!" schrie, stellt sich Wright in Atonement stilistisch gesehen in den Dienst der Vorlage McEwans. Seine an den Ästhetizismus Leans oder Viscontis grenzende Liebe zu schönen Sonnenuntergängen in den leidvollsten Situationen ist auch hier nicht verschwunden, doch hält er sich in der zweiten Hälfte des Films damit glücklicherweise zurück und lässt der Entwicklung der Story ihren freien Lauf. Der verstörende, blutige Kontrast des Krankenhauses zur vorangegangenen sommerlichen Idylle ist kein Selbstzweck. Sühne hat ihren Preis.

Die schauspielerisch stärksten Szenen des Films gehören McAvoy, dessen Robbie in all dem Leid des Krieges nur davon träumt, zu Cecilia zurück zu kehren und Romola Garai, die uns als 18-jährige Briony ungeachtet ihrer ganzen Zwiespältigkeit noch Empathie abringt. Knightley's Cecilia gewinnt dagegen im Verlauf des Films kaum weitere Facetten, ein Problem, dass auch die meisten Nebencharaktere betrifft. Das ist die einzige Schwäche des Films.

Dafür entschädigt die stringente, visuell berauschende Inszenierung. Wrights selbstbewusste Regie erschafft trotz der ungewöhnlichen Geschichte einen kontinuierlichen Spannungsaufbau, um dann schlagartig mit allen Erwartungen zu brechen. Atonement ist ein überwältigendes Kinoerlebnis, dessen Diskurs um Schuld und Sühne weit über eine ‚große Liebesgeschichte' hinaus geht. Joe Wright hat einen der besten britischen Filme seit Jahren gedreht. Vielleicht sogar einen modernen Klassiker.

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