Review

Mal ganz ehrlich. Ich bin sprachlos. Und das so richtig. Das kommt bei mir wirklich nicht oft vor, wenn es um Filme geht. Doch "Schande" schaffte dies mal wieder und das im positivsten aller nur möglichsten Sinne. Solch nervenaufreibende, tiefgründige, bis ins kleinste Detail passende Unterhaltung ist mir seit ganz langer Zeit nicht mehr untergekommen. Hier stimmt einfach Alles.

"Schande" ist meisterhaft. Und spielt mit dem Zuschauer. Was ist geschehen ? Kindesmissbrauch ? Wer hat sich an der 13-jährigen Benice vergriffen ? Zu Beginn des Films sieht man sie mit ihrem Vater Hubertus durch die Gegend fahren. Die Beiden verbrachten einen schönen Abend gemeinsam, weil ihre Eltern getrennt sind und Benice ihren leiblichen Vater nur hin und wieder sehen kann. Ihre Mutter Claudia lebt nun mit dem Zahntechniker Josch zusammen. Benice trifft zu Hause nicht unbedingt das vor, was man eine Familie nennt. Die Mutter meistens hysterisch und sehr skeptisch ihrem Ex-Ehemann gegenüber und ihr Stiefvater Josch nimmt Benice so gut wie es geht in Schutz, er versteht sie bei jeder Gelegenheit und seine Ruhe und Gelassenheit ist seine große Stärke. Doch eines Tages findet die Mutter in der Unterwäsche ihrer Tochter Sperma- und Blutflecken. Erklärt sich dadurch das merkwürdig-apathische Verhalten Benices ? Und wer hat sich an ihr vergriffen ?

"Schande" ist kein Kriminalfilm. Wer meint, hier steht ein Kommissar im Mittelpunkt, der die zerrütteten und verstrittenen Familienverhältnisse durchstöbern oder andersweitig vorgehen muss, um den Täter zu finden, der liegt hier falsch. Der Film setzt voll und ganz auf die psychologische Ebene. Dass mit Benice irgendetwas nicht stimmt, diesen Eindruck bekommt man relativ schnell. Als sie sich von ihrem Vater verabschiedet, neigt sich die Kamera um 90 Grad. Zu sehen ist Benices abwesender Blick. Und ein seltsames Lächeln. Sie freut sich. Doch weshalb ? Mit atmosphärischen Bildern lässt die Regisseurin einen unguten Eindruck zurück. Aber Benice ist doch glücklich ?

Benice verschmiert den Fahrstuhl. Und läuft apathisch durchs Haus, als sie ihre Heimat betritt. Ohne ihrem Stiefvater und ihrer Mutter Hallo zu sagen. Was ist im Fahrstuhl geschehen, als sowohl der Hausmeister als auch ein 16-jähriger Junge von der Kamera eingefangen wurden ? Hat der Regisseur dem Zuschauer etwas verheimlicht, dass er erst später aufklären möchte ?

Schnell wird klar, dass es wohl Vater Hubertus war, der sich an seiner Tochter vergangen hat. Als Benice gefragt wird, ob sie den Geschlechtsverkehr als etwas Angenehmes in Erinnerung hätte, antwortet sie mit Ja. Erstaunen und Entsetzen beim Zuschauer. Wieso empfindet Benice so ? Und was sollen die ständigen, fast schon poetischen Kameraeinstellungen von sich drehenden Spielzeugkarussels und herabfallenden Wassertropfen ? Dass dies sehr eng miteinander in Verbindung steht, mag wohl keiner glauben, doch "Schande" verknüpft die Aussage dieser Bilder so unglaublich gekonnt und genial, dass wirklich ein enormer Tiefgang entsteht. Ständig diese Bilder in Zeitlupe, Aufnahmen der Stadt, Close-Ups der verstörten Benice, untermalt von herrlich schönen, aber gleichsam sehr fragilen Klaviertönen. Was geht in Benice vor ? Daheim hält sie es kaum noch aus, bei ihrer hysterischen, kontrollsüchtigen Mutter. Doch dann beschuldigt sie ihren Vater, sie vergewaltigt zu haben. Aber wieso sucht sie genau bei diesem Zuflucht ?

Die damals 13-jährige Stephanie Charlotta Koetz spielt dabei so beeindruckend und einfühlsam, dass man regelrecht mitfühlt mit ihr. Sie wird von niemand verstanden und fällt immer wieder in ihre ganz eigene Welt, in der sie, apathisch, ihren Mitmenschen zuhört. Sie sieht dabei jedoch herabfallende Wassertropfen oder sich drehende Spielzeugkaruselle in Zeitlupe. Ständig begleitet von diesen Klaviertönen. Sie flüchtet sich in die Musik, macht freiwillig Überstunden bei ihrem Klavierlehrer und findet ihre Bestimmung darin, wunderschöne Melodien zu spielen. Stephanie Charlotta Koetz liefert hier wirklich eine phänomenale Leistung ab, die unter die Haut geht und für eine 13-jährige aller Ehren Wert ist, wenn man bedenkt, mit welch krassem und kritischem Thema sie sich hier sehr intensiv auseinandersetzen muss.

"Schande" mag zwar deutsches Kino sein, aber zur Abwechslung wurde hier mal wirklich allerallerhöchste Qualitätsstufe erlangt. Der Film ist sicherlich nicht zur reinen Unterhaltung gedacht. Hier sind so viele Details versteckt, die die menschliche Seele und das humane Denken beleuchten. Der Zuschauer ertappt sich, wie er die kleinsten Andeutungen sofort auf den weiteren Filmverlauf ummünzt. Da ist dieser suspekte Hausmeister im Treppenhaus, der von der Kamera nur kurz eingefangen wurde. Da erscheint der Jugendliche im Fahrstuhl, der Benice zuzwinkert. Und wieso dauern die Klavierstunden bei ihrem Lehrer eigentlich immer eine Stunde länger ? Und wieso hat sie zu ihrem Vater Hubertus ein so inniges Verhältnis ? Das kleinste Detail versucht der Zuschauer, für sich zu verwenden und ertappt sich dabei, wie er Unschuldigen ein wirklich schlimmes Verbrechen unterstellt. Wie gesagt, "Schande" spielt mit dem Zuschauer.

Doch dem nicht genug. Wer die erste Stunde anspruchsvollste Unterhaltung hinter sich hat, darf sich auf eine letzte halbe Stunde gefasst machen, die es wirklich in sich hat. "Schande" schockiert, provoziert, wühlt und deckt auf und lässt noch nicht einmal mit Einsetzen des Abspanns los. Klischeekino ist hier nicht der Fall. Wenn der Zuschauer denkt, er sei nun am Ende der psychischen Strapazen angekommen, setzt Claudia Prietzel noch einen drauf, um am Ende völlig unvorhersebar zu sein. Nicht im Sinne des Filmes, damit der Zuschauer ja seine Spaß am Weiterrätseln hat. Hier geht es gar nicht darum, wer nun der eigentliche Täter ist. Zumindest nicht vordergründig. Hauptaugenmerk ist der Verlauf des Films und wie sich die Gemütszuständer mit Benices Aussage verändern. Claudia will ihren Ex-Mann als den Täter sehen und bekommt ihn geliefert. Benice scheint auch ihr Martyrium hinter sich zu haben. Bis der nächste Hammer kommt.

"Schande" ist definitiv ein Film für zumindest Volldenkende. Es ist nicht das Sonntagabend-Drama, das für die ganze Familie zu bestaunen ist. So ganz untypisch für das deutsche Kino (eigentlich wurde der Film ja nur fürs Fernsehen gedreht), fängt der Film eigentlich dort an, wo der Rest aufhört. Hier wird komplett draufgehalten und nicht dann aufgehört, wenn es brenzlig und etwas zu unschön wird. Nicht die körperliche Gewalt steht hier im Mittelpunkt, sondern "Schande" arbeitet komplett auf psychischer Ebene, was zumindest mir sehr zu schaffen machte.

Poetisch, philosophisch, wunderschön, aber auch knallhart, realistisch, beängstigend. Ein symphonienhafter Soundtrack, grandiose Hauptdarsteller und eine Thematik, die schon sehr provoziert. Aber leider viel zu oft stattfindet. "Schande" ist nicht nur ein deutscher TV-Film, sondern ein viel zu unbekannter, dafür umso wichtigerer Beitrag über das Thema Kindesmissbrauch, bei dem wirklich alle Beteiligten und Geschädigten in knappen 90 Minuten perfekt ausgeleuchtet werden. Wer sich darauf einlässt und nicht damit rechnet, mit "Schande" einen kleinen Krimi aus deutschem Lande zu sehen, der wird hellauf begeistert und mit Einsetzen des Abspanns richtig mitgenommen sein. Denn so anspruchsvoll, packend, realistisch, schockierend und nachvollziehbar wurde man seltenst unterhalten. Ein Meisterwerk.

10/10 Punkte

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