Nun liegt er also vor, der neue Film von David Cronenberg, dem Regisseur, der dem Begriff „Körperlichkeit“ im Kino neue Dimensionen abzuringen imstande war. Der uns Mensch-Maschine-Verschmelzungen, Mutationen und üble Deformationen zugemutet, den menschlichen Körper auf der Leinwand wie ein Stück Wachs immer wieder neu geformt und gleichzeitig durchleuchtet hat. Der uns immer wieder daran erinnert hat, dass wir trotz aller Technik immer noch Fleisch sind.
Denkendes, empfindendes, verwundbares Fleisch.
Nur war ab einem gewissen Zeitpunkt jede mögliche Verformung der Physis durchdekliniert, weswegen die Psyche stärker ins Betrachtungsfeld des Kanadiers rückte.
Und sein letzter Film, „A History of Violence“, ließ erahnen: Die Zeiten des body horror scheinen vorbei, Cronenberg ist offensichtlich beim klassischen Spannungskino angekommen.
„Eastern Promises“ bestätigt diese Ahnung zunächst auch überdeutlich. Mit der Geradlinigkeit seines Vorgängers entfaltet er die Geschichte um die Hebamme Anna Iwanowna (Watts), welche sich eines um die Weihnachtszeit geborenen Babys annimmt, dessen 14-jährige Mutter bei der Geburt starb. Deren einziges Vermächtnis stellt ein in kyrillisch verfasstes Tagebuch dar, mit welchem Anna nicht nur das Interesse des verschlossenen Nikolai Luzhin (Mortensen) weckt, sondern sie obendrein in die Schusslinie eines russischen Mafiasyndikats bringt, deren Mitglied Nikolai ist…
Das wird so bedächtig und ruhig erzählt, dass selbst „Violence“ dagegen temporeich anmutet. Aber die mangelnde Geschwindigkeit gereicht dem Film zum Vorteil, denn die schnörkellose, konzentrierte Erzählweise erzeugt eine ganz eigene Stimmung, in welcher sich die Charaktere wunderbar entfalten können, ohne dabei pausenlos Details von sich preiszugeben. Seit langem ist dies mal wieder ein Film, der den Figuren ihre Geheimnisse lässt, sie nicht vollends dem Publikum öffnet. Eingestreute Details regen zum Nachdenken an, aber vieles bleibt unausgesprochen. Ein gutes Beispiel ist hier die Hintergrundgeschichte von Anna, die während eines Abendessens kurz zur Sprache kommt, immens wichtig für ihr weiteres Handeln ist, darüber hinaus aber nicht vertieft wird. Cronenberg weiß, wie er zu gewichten hat, baut die Geschichte Stück um Stück aus, würzt mit Humor und streut immer wieder Gewalt ein, die aber zu keiner Zeit zum spekulativen Element verkommt. Regie, Kameraarbeit und die Musik von Howard Shore sind angenehm zurückhaltend, der Rest ist dem Cast überlassen.
Denn „Eastern Promises“ ist vorrangig exzellentes Schauspielerkino.
Sowohl Armin Müller-Stahl als auch Vincent Cassel sind absolut glaubwürdig in ihren Rollen. Ihnen zuzusehen ist eine Freude, gerade in ihren gemeinsamen Szenen. Naomi Watts ist für ihr sicheres Händchen bei der Rollenwahl immer wieder zu bewundern, denn auch hier darf sie deutlich mehr zeigen, als ihr in anderen Projekten möglich wäre. Nie verlässt sie sich auf ihr gutes Aussehen, sucht immer die Herausforderung. Beeindruckend. Dennoch sollte man sich nichts vormachen, der Film wird zu großen Teilen von jemand anderem getragen:
Viggo Mortensen liefert eine Rasiermesser-Performance sondergleichen ab. Scheinbar mühelos beherrscht er in seinen Szenen die Leinwand, gibt sich eisig verschlossen und benötigt doch nur einen Blick, um komplexeste Gefühle zu vermitteln. Seine Körperhaltung, die antrainierte russische Sprache und sein bedingungsloses Aufgehen im Charakter des Nikolai lassen keinen Zweifel daran, dass dieser Mann nicht nur als „Aragorn“ in Erinnerung bleiben wird.
Daran dürfte nicht zuletzt auch die grandiose Kampfsequenz in einem Badehaus ihren Anteil haben, die von Mortensen komplett nackt bestritten wird. Schonungslos muss er Schläge einstecken, wird mit Messern attackiert und gegen die Fliesen geschmettert. Als wäre sein von Gefängnistätowierungen übersäter Leib noch nicht ausreichend in Mitleidenschaft gezogen worden.Er könnte kein deutlicheres Gegenstück zum makellosen Körper einer jungen Prostituierten bilden, die in einem Freudenhaus des Syndikats ihr Dasein fristet. Mit ihr hat Nikolai auf ziemlich drastische Weise Sex, und wenn die Kamera danach auf ihr verharrt, quasi zu Nikolais betrachtendem Auge wird, dann bedarf es keiner weiteren Worte, um die Tragik der Situation dieses Mädchens zu erfassen.
Wenn man sich vor Augen führt, wie es Cronenberg schon allein mit diesen beiden Szenen gelingt, seinen Charakteren lediglich mit ihren Körpern eine Geschichte zu geben, ihnen ihre Situation also förmlich auf den Leib zu schneidern, dann ist „Eastern Promises“ schlussendlich gar nicht so weit vom Lieblingsthema seines Regisseurs entfernt. Nur dient die menschliche Physis hier mehr als erzählerisches Element denn als zu ergründendes Exponat. War Cronenberg bis jetzt ein Pathologe, der interessiert in menschlichen Körpern wühlte, so ist er nun eher mit einem Polizeiinspektor zu vergleichen, der auf einen Leichenfund herabblickt und ob der Grausamkeit dieser Welt den Kopf schüttelt. Er muss die Menschen nicht mehr sezieren, um ihre Geschichten zu erfahren, aber im Kern geht es Cronenberg auch hier wieder um die unauflösbare Verbindung zwischen Körper und Geist. Um die Dinge, die sich Menschen antun. Und um die Narben, die dabei auf dem Fleisch zurückbleiben.
Er kann nun einmal nicht aus seiner Haut.