Schon die ersten Bilder lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, was gleich geschehen wird. Der Barbier versucht seinen auf dem Friseurstuhl sitzenden Kunden mit Worten abzulenken, während ein junger Mann mit einer Zeitung in der Hand den Laden betritt. Die junge hochschwangere Frau verliert viel Blut und bricht ohnmächtig zusammen. Der Tod tritt in beiden Fällen ein und es ist offensichtlich, dass dieser von bewusster Hand vorbereitet wurde. Es ist aber auch eine Geschichte vom Leben, denn nach einem Mord bleibt immer ein Täter und das Leben des Babys konnte gerettet werden.
Trotz der drastischen Bilder zu Beginn zieht David Cronenberg hier eine scheinbar typische Geschichte auf, deren Spur schnell zur russischen Mafia führt. Die Hebamme Anna (Naomi Watts) entdeckt in den Sachen der Toten ein in russischer Sprache verfasstes Tagebuch und nimmt es nach Hause mit. Die selbst russisch stämmige Londonerin will ihren Onkel, der im Haushalt ihrer Mutter lebt, bitten, dieses zu übersetzen. Außerdem findet sie eine Visitenkarte eines Londoner Restaurants, dem sie daraufhin einen Besuch abstattet.
Cronenberg lässt in seiner Darstellung keine mafiösen Muster aus, die verdeutlichen, dass diese Strukturen immer auf ähnlichen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut sind - unerheblich, ob es sich dabei um italienische oder russische Gruppierungen handelt. Schon die finster aussehenden Gesellen, auf die Anna am Eingang des Restaurants trifft, mit ihren Sonnenbrillen, eleganten Kleidung und Luxus-Auto, gehören ebenso dazu, wie der leutselige Restaurantbesitzer, der Anna freundlich begrüsst und sie sogleich durch sein Etablissement führt.
Wie immer ist hier nichts so wie es scheint : Viggo Mortensen als Nikolai, der als Fahrer und Ausführender der Drecksarbeit engagiert ist, wirkt besonders cool und brutal, sein Chef Kirill (Vincent Cassel) ist vordergründig umgänglicher und etwas weicher, während Armin Müller-Stahl der Rolle des Familienoberhauptes Semyon durchaus neue Nuancen abgewinnen kann, so opamäßig freundlich legt er seine Rolle an.
Natürlich ist Brando als "Pate" immer im Hintergrund zu erkennen, aber Stahls Interpretation ist völlig eigenständig, denn er ist eine wesentlich negativere Figur. "Der Pate" war zwar konsequent in der Sache und scheute vor einem "notwendigen" Mord nicht zurück, aber bei ihm waren immer moralische Grenzen zu erkennnen. Semyon dagegen wirkt viel degenerierter in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber Schwächeren, seine Liebe zu seinem Sohn ist von stark egoistischen Motiven geleitet und es wäre bei dem italienischen Paten undenkbar gewesen, dass es seine eigenen Missetaten gewesen wären, die die kommenden Ereignisse erst verursachten.
In diesem Zusammenhang bekommt auch Cassels Rolle einen anderen Gestus, denn sein Verhalten ist stark von seiner Vaterfigur Semyon geprägt. Zuerst wirkt er wie der übliche Aufsteiger, der in die Rolle seines Vaters wachsen will, sich überfordert fühlt und diese Diskrepanz mit besonders großer Gewalttätigkeit gegenüber Anderen und Verächtlichmachung gegenüber Frauen auslebt. Ebenso bekommen seine homophoben Verhaltensmuster eine andere Richtung als die üblichen männlichen Machtspielchen, denn Cassel ist ganz offensichtlich homosexuell, was Cronenberg durch fast zärtliche Momente zwischen ihm und Nikolai unterstreicht. Doch sein Vater wirkt unnachgiebig in seiner Haltung, so dass Cassel hier immer mehr vom Täter zum Opfer wird und auch seine letztliche Konsequenz psychologisch nachvollziehbar wird.
So wie Cassel in seiner Schwäche immer mehr demaskiert wird, so steigt umgekehrt Nikolai in seiner Machtposition. Er wird Kirills Vater vorgestellt und begehrt um die Aufnahme in die Familie. Seine Coolness und Selbstsicherheit lassen keinen Zweifel daran, dass ihm das gelingen wird und er besteht die dafür notwendigen Prüfungen, aber spätestens seit "Goodfellas" ist bekannt, dass das nicht gleichbedeutend mit persönlichem Schutz ist und das die Linie des Blutes immer noch Vorrang hat.
"Eastern Promises" ist kein üblicher Mafia-Thriller, denn Cronenberg gelingt es die perversen Konsequenzen, die in dem Zusammenspiel der Kräfte in diesen Konstellationen liegen, zu verdeutlichen. Sein Film ist unbequem, auch wenn er auf typische Versatzstücke sonstiger Mafia-Thriller zurück greift. Gerade die klassischen Szenen, in denen die kleinbürgerliche Seite dieser "Familie" gezeigt wird, in der ein hoher runder Geburtstag gefeiert wird, haben hier nichts anheimelnd privates, sondern werden angesichts des Schänders, der in der Mitte des Geschehens steht, zu einer beeindruckenden Demonstration der Verlogenheit.
Naomi Watts kommt in dieser Konstellation eine wichtige Rolle zu, in der sie wie ein Katalysator das weitere Geschehen beeinflusst. Sie ist eine Figur von fast stoischer Reinheit und Anständigkeit und hier die einzige Person, in der der erste Anschein nicht täuscht. Sie vermittelt trotz ihrer sich steigernden Auseinandersetzung mit der Mafia, keinerlei Bestrebungen sich dieser anzubiedern. Im Gegenteil wirkt ihre Rolle fast unwirklich, angesichts üblicher Bedrohungen, die ihre Verhaltensweise sonst bei kriminellen Vereinigungen hervorruft, und auf die Cronenberg hier verzichtet. Letztlich ist ihre engelhafte, sakrosankte Rolle, die Cronenberg in seinen letzten Bildern noch optisch betont, nur im Zusammenhang mit den anderen Figuren zu verstehen, denn sie betont die fehlende Schnittmenge zu den anderen handelnden Personen, die trotz kurzzeitiger Annäherung keine Vereinigung zulässt.
Fazit : Cronenbergs "Mafia-Thriller" widmet sich unter dem Deckmäntelchen eines vertrauten Genres seiner Sichtweise auf menschliche Verhaltensmuster, auf innere Zwänge und die sich daraus ergebenden Macht- und Gewaltauswirkungen. Doch bei Cronenberg gibt es dafür keine Lösungen und selbst wenn die eine oder andere Person die Konsequenzen ihres Tuns ertragen muss, so ändert das nichts an der vorherigen Situation.
Ein "Show-Down", der neben der Spannungskonklusion auch immer eine Erlösung bedeutet, findet deshalb nicht statt, denn bei Cronenberg gibt es kein Ende. Trotz der großartigen Darsteller Leistungen wird "Eastern-Promises" nicht in die Phallanx der Mafia-Filme einbrechen, denn seine Wirkung ist verstörend und vermittelt keine Befriedigung. Trotzdem ist die Wahl dieses Genres für seine Intention geschickt gewählt, gerade weil seine Aussagen hier weniger offensichtlich, fast unmerklich auf den Betrachter einwirken (9/10).