Woody Allen inszeniert eine Dokumentation über eine fiktive Persönlichkeit, einen gewissen Leonard Zelig. In den Zwanziger Jahren steigt dieser zum Phänomen auf, mit der einzigartigen Fähigkeit die Eigenschaften anderer Menschen annehmen zu können. Dies ist nicht im opportunistischen Sinne gemeint, sondern im wörtlichen. Ganz automatisch passt sich der Hauptcharakter an seine Umwelt an und wird zum Afroamerikaner, zum Chinesen oder auch zum Iren. Ärzte, Psychiater und Wissenschafter beschäftigen sich gleichermaßen mit ihm, eine Lösung kann aber niemand finden. Zelig wird auch zum Feindbild für diverse Gruppierungen und sogar zur menschlichen Verkörperung des Kapitalismus gesehen.
Der äußerliche Rahmen entspricht einer seriösen Dokumentation mit sehr liebevoll gestaltetem „Archivmaterial“. Mit Liebe zum Detail und akribischer Inszenierung gelingt Allen das Kunststück eine durch und durch interessante Dokumentation zu schaffen und den Zuschauer bestens zu unterhalten. Erwähnenswert ist der brillante Wortwitz und die reichhaltigen Ideen, wirklich erstaunlich welch ein Füllhorn an Kreativität in das Drehbuch geflossen ist. Subversive Seitenhiebe und sarkastische Kommentare zu historischen Ereignissen und Entwicklungen bleiben nicht aus und begeistern vor allem Leute mit einem großen Allgemeinwissen. Die üblichen Sezierungen menschlicher Beziehungen fallen ebenso weg wie Allens Slapstick, von welcher er aber ohnehin seit mehreren Filmen keinen Gebrauch machte.
Ähnlich wie in „Forrest Gump“ werden anhand einer erfundenen Figur diverse historische Ereignisse und Persönlichkeiten in die Handlung eingebunden und so wirkt „Zelig“ auf großartige Weise zugleich absurd und glaubwürdig. Dabei regt er teilweise sogar noch mehr zum Nachdenken an als für Allen üblich, denn die versteckten Witze und Allegorien machen sich erst bei mehrfacher Betrachtung in ihrer ganzen Bandbreite bemerkbar. Woody Allen gibt sich viel Mühe und überzeugt mit einem abwechslungsreichen Schauspiel als menschliches Chamäleon, legt aber dennoch ganz subtil sehr viel von seinem eigenen Charakter in die Interpretation der Figur. Der voran schreitende Opportunismus der Figur und dessen Notwendigkeit erinnert nicht zufällig ebenso an das jüdische Volk, als auch an den Literatur-Klassiker „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Höhepunkt finden diese Bezüge als Zelig mit dem Nationalsozialismus konfrontiert wird und Hitler schließlich bei einem Witz über die Polen stört. Das und noch viele weitere Verrücktheiten passieren dem skurrilen Hauptcharakter, von dem nur ein dokumentarisches Bild gezeichnet wird, ganz so als hätte es ihn wirklich gegeben.
Das Kostüm-Design und die Kameraführung wurden Oscar-nominiert, gingen aber bei der Verleihung leer aus. Wie immer gelingen Gordon Willis hervorragende Aufnahmen, die viel zur Atmosphäre des Films beitragen. Hier musste er mit unterschiedlichen Kameras und Aufnahmetechniken arbeiten und diese Arbeit gelingt ihm außerordentlich gut. Das Set-Design, die Kostüme und natürlich der beschwingte Score tragen ebenfalls viel zum gelingen der 20er Jahre-Stimmung bei. Diese Epoche, maßgeblich portraitiert von F. Scott Fitzgerald, ist ein Spezial-Gebiet für Allen, der sich über die Jahre hinweg immer wieder mit der Literatur, der Musik und dem Kino beschäftigt hat. Mit Mia Farrow war „Zelig“ der zweite Film nach „Eine Sommernachts-Sex-Komödie“, doch vor dem Aus ihrer Partnerschaft sollten noch einige gemeinsame Werke folgen.
Die Figur des Zelig ist vieldeutig und bietet mehr Raum zur Interpretation als für Woody Allen gewöhnlich. Sein fiktiver Prominenter ist durchaus ambivalent und durchlebt einen Skandal nach dem anderen. Auf Dauer mag es etwas anstrengend sein dem dokumentarischen Stil zu folgen, gerade der professionelle und energetische Kommentator sorgt für die nötige Seriosität und gleicht einige Längen problemlos aus. Besonders kommt das im amerikanischen Original zur Geltung (Erzähler Patrick Horgan konnte schon damals auf eine reichhaltige Erfahrung als Sprecher zurück blicken), doch auch die deutsche Synchronisation ist gelungen – nur sehr wenig geht vom Wortwitz und von der authentischen Atmosphäre verloren. Zelig selbst kommt nur selten zu Wort, ist über die knappe Laufzeit von achtzig Minuten allerdings ständig präsent.
Fazit: Ein kleines Meisterwerk von einem meiner liebsten Regisseure. Der gute Woody beweist Kreativität und Mut zum Unkonventionellen, denn diese Regie-Arbeit ist eine klare Abkehr von seinen vorigen Werken wie „Manhattan“ „Stardust Memories“ oder auch „Eine Sommernachts-Sex-Komödie“.
8,5 / 10