Betrachtet man aktuelle Kinowerke, so ist man immer versucht zu glauben, daß diese sich auf dem neuesten Stand befinden - nicht nur in technischer, sondern auch in inszenatorischer Hinsicht. Die Notwendigkeit dieses "up to date"-Denkens liegt schon in den Sehgewohnheiten des Publikums, daß ähnlich wie in der Mode immer wieder neu begeistert werden muß. Darin liegt auch der Grund, daß gerade Filme, die vor zwei oder drei Jahrzehnten die Massen anzogen, heute oft fast langsam und in ihrer Gestaltung altmodisch wirken.
Doch wenn man sich mit den verschiedenen stilistischen Strömungen des Kinofilms beschäftigt, so erkennt man, daß es ähnlich wie in allen Kunstrichtungen Standards gibt, die nicht mehr in Frage gestellt werden.
Dazu beigetragen hat der französische Regisseur Jean-Pierre Melville, auch wenn er und die meisten seiner Filme inzwischen in Vergessenheit geraten sind. Ohne Melvilles Ästhetik und Erzähltechnik wären die Werke von Quentin Tarantino, John Woo oder Michael Mann - also von Regisseuren, die heute "State of the art" sind - so gar nicht möglich. Melville, der sich fast ausschließlich dem Gangsterfilm verschrieb, entwickelte auf Basis seiner Begeisterung für den amerikanischen Film der 40er Jahre eine eigene kühle Ästhetik ,verbunden mit einem äußerst wortkargen und sehr ruhig erzählten Storyaufbau.
In "Vier im roten Kreis" gelingt Melville eine geniale Mischung aus einer spannenden, sich langsam aus verschiedenen Gesichtspunkten heraus entwickelnden Story und einer Ästhetik, die in ihren kühlen gedeckten Farben, ruhigen langanhaltenden Einstellungen und natlosen optisch kongruenten Szenenwechseln nicht nur stilbildend und bis heute zeitlos ist, sondern gerade für den modernen Film, der kaum noch ohne Filter und einer gewissen Farbblässe auskommt, als Vorbild gelten kann.
Schon die Länge des Films von deutlich mehr als zwei Stunden zeigt die epische Breite, in der Melville seine Geschichte erzählt. Dabei gelingen ihm Szenen von solch melancholischer und gleichzeitig kühler Intensität, daß man sich nicht daran sattsehen kann. Story und Optik bilden hier eine Einheit und Melville macht von vornherein klar, daß es in diesem Film nur wenige Momente des Glücks geben wird. Diese kurzen Momente erkennt man nur an wenigen kleinen Gesten, an winzigen Details, an einem kurzen zufriedenen Gesichtsausdruck und vielleicht gerade weil es höchster Aufmerksamkeit bedarf ,diese Augenblicke einer Gemeinsamkeit oder eines Erfolges zu erkennen, bleiben sie so stark in der Erinnerung haften.
Zu Beginn sehen wir den Comissaire Mattei (Bourvil) gemeinsam mit Vogel (Gian Maria Volonté) in einen Zug einsteigen. Sie sind mit Handschellen aneinander gefesselt, aber erst im Schlafwagenabteil erkennt man, daß Vogel der Gefangene ist. Er legt sich nach oben und wird an das Bett gefesselt. Die Kamera kommt ihm ganz nah und sein Gesicht verliert sich in der Dunkelheit - Schnitt - langsam erscheint das Gesicht von Corey (Alain Delon),der auf seiner Gefängnispritsche liegt. Er soll entlassen werden, aber kurz zuvor besucht ihn noch ein Gefängniswärter, um ihm einen Tipp für einen besonders lukrativen Job geben will - einen Einbruch in das Haus eines stadtbekannten Pariser Juweliers.
Während Corey offiziell entlassen wird, knackt Vogel vorsichtig seine Handschellen. Als der Zug langsamer fährt, nutzt er die Gelegenheit und springt aus dem Fenster. Allein die Art wie Mattei ihm folgt ist in ihrer Gestaltung einmalig. Ohne Hast oder Anzeichen von Hektik springt er ebenfalls aus dem Zug und folgt ihm. Als er merkt, daß er ihn so nicht einholen kann, geht er in einen nahegelegenen Bauernhof, nimmt das Telefon, sieht auf die Landkarte und gibt professionell Befehle zur Abriegelung der Gegend durch. Kein lautes Wort kommt über seine Lippen und kein Anzeichen von Ärger ist ihm anzumerken.
Parallel geht der soeben entlassene Corey in ein Hochhaus. Wir sehen nur die Blende über dem Aufzug und wie die Lichter langsam zum 8.Stock wandern. Auf sein Klopfen hin öffnet ein Mann die Tür. An seinem schlechten Gewissen und einer kurz genuschelten Entschuldigung erkennt man den ehemaligen Partner, der nicht ins Gefängnis mußte. Während Corey Geld von ihm verlangt, steigt eine junge Frau, die zuvor neben dem Mann lag ,aus dem Bett und lauscht an der Tür. Wir erkennen sie als die Frau, deren Bilder Corey zuvor im Gefängnis zurücklassen wollte. Corey zwingt seinen ehemaligen Partner, ihm Geld aus dem Tresor zu geben und legt stattdessen die Fotos der Frau in den leeren Safe.
Melville versucht gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, daß es Prozesse geben könnte. Hier wird nicht geredet oder diskutiert, hier gibt es keine lautstarken Auseinandersetzungen, die vielleicht zu Lösungen oder Veränderungen führen könnten, sondern alle Protagonisten fügen sich den Tatsachen, die mit einer tödlichen Konsequenz ihren Lauf nehmen. Ebensowenig gibt es Dinge ,die Freude machen oder wenigstens ablenken, was auch durch den konsequenten Verzicht auf Frauen symbolisiert wird - Melvilles Pessimismus hat hier seinen Höhepunkt erreicht.
Wieder Szenenwechsel - wir sehen eine Totale - eine Reihe von Bussen fahren entlang einer Straße und bleiben stehen. Hunderte Polizisten steigen aus und bilden eine Reihe, mit der sie die Wälder nach Vogel durchkämmen. Diese beeindruckenden Bilder verdeutlichen eine Bedrohung, die Vogel immer stärker vor sich hin treibt und damit in die Richtung von Corey, der sich inzwischen einen amerikanischen Wagen gekauft hat und alleine in einer Raststätte einen Kaffee trinkt...
Im Laufe der Geschichte finden nicht nur diese beiden Männer zusammen, sondern hinzu gesellt sich noch der ehemalige Polizei-Scharfschütze Jansen. Diese Figur, genial von Yves Montand verkörpert, kennt nur zwei Lebensformen - den Alkohol und das Scharfschießen. Als ihn Corey wegen des Jobs anruft, ist er ein betrunkenes Wrack, daß sich von Ungeziefer überrannt sieht. Doch in dem Moment, als er die Gelegenheit bekommt, wieder zu schießen, hört er sofort auf zu trinken. Das Scharfschießen ist die noch größere Droge.
Auch wenn der deutsche Titel "Vier im roten Kreis" eine Erweiterung zum Originaltitel bedeutet, so hat er doch seine Berechtigung. Der rote Kreis symbolisiert die gegenseitige Abhängigkeit und die schicksalshafte Verbindung der in diesem Kreis stehenden Personen. Dazu gehört auch Commissaire Mattei, der nur wenige private Momente mit seinen drei Katzen hat und sonst ausschließlich seinem Polizistenjob nachgeht. Dabei scheut er sich nicht, mit unfairen Tricks Druck auf mögliche Informanten auszuüben, aber er selbst wird von seinem Chef genauso überwacht und mit Mißtrauen verfolgt. Der letzte Blick der Kamera fällt auf sein Gesicht, daß fast unbeweglich bleibt und weder Glück noch Befriedigung ausstrahlt.
Fazit : Ruhig und spannend erzählter Gangsterthriller, dessen überragende Optik kongenial den hier gezeigten Fatalismus und Pessimismus überträgt. Melvilles Film, der in einer in Echtzeit gedrehten Einbruchsszene kulminiert, bietet eine Ästhetik, die auf Grund ihres Widerspruchs zur "Nouvelle Vague" zu Beginn der 60er Jahre kritisiert wurde, aber in ihrer Eigenständigkeit zeitlos und bis heute stilbildend geblieben ist.
Tarantino und Woo berufen sich offiziell auf ihn und in Michael Manns Bildern erkennt man Melvilles grafische, breit angelegte Art wieder, genauso wie in vielen anderen zeitgenössischen Filmen. Doch Melville ist ursprünglicher, vielleicht spröder und seine Erzählweise ist tiefgreifender ,in seiner Ruhe radikaler und in seinem Pessimismus konsequenter (10/10).