Review

"Wenn Sie nicht persönlich betroffen wären, säßen sie gemütlich zu Hause in Ihrem Sessel und schauten sich in den Nachrichten an, was hier so vor sich geht !"

In diesem Satz des US-amerikanischen Botschaftsangehörigen gegenüber Edmund Hormann (Jack Lemmon),einem erfolgreichen amerikanischen Geschäftsmann, kulminiert Costa-Cavras Film "Missing", in dem er sich zum wiederholten Mal den Vorgängen innerhalb eines diktatorischen Systems widmet. Die Parallelen zu seinem Film "Z" aus dem Jahr 1969 sind offensichtlich, aber seine Intention und Vorgehensweise ist völlig unterschiedlich. Während "Z" fast bürokratisch ist in der Beschreibung der inneren Vorgänge, die zu einem Militärputsch führen, und Costa-Cavras sowohl den Staat als auch die handelnden Personen prototypisch anonymisiert, um damit ein allgemeingültiges Muster zu schaffen, ist in "Missing" seine Erzählweise konventioneller.

Das hat ihm seitens einiger Kritiker den Vorwurf der fehlenden Konsequenz eingebracht und dem Film wurde dieses als Schwäche ausgelegt. Da es sich bei "Vermisst" auch noch um seinen ersten Hollywood-Film handelte, nachdem er zuvor vor allem durch politisch engagierte europäische Werke bekannt wurde, lag natürlich der Verdacht nahe, daß man ihm in den USA den Zahn gezogen hatte. Letztendlich verdeutlicht das nur, wie sehr jede Zeit ihre eigenen Erwartungshaltungen hervorbrachte. Anfang der 80er Jahre wurde von einem "linken" Regisseur eine klare politische Aussage einfach erwartet.

Tatsächlich beschäftigt sich Costa-Cavras kaum mit den politischen Ereignissen in Chile, die zu der Machtübernahme durch General Pinochet führten. Im Gegensatz zu "Z", daß sich besonders den Machthabern und Politikern widmete und die Bevölkerung nur am Rande oder als Masse darstellte, beschäftigt er sich in "Missing" vor allem mit einem Einzelschicksal. Polizeiliche und militärische Aktionen begleiten zwar ständig das Geschehen, werden aber immer nur im Hintergrund gezeigt und vermitteln überzeugend die bedrohliche und für die Bevölkerung durch das ausgerufene "Kriegsrecht" unkontrollierbare Situation.

Die Abläufe in Chile und seiner Hauptstadt Santiago interessieren ihn nicht und konsequenterweise kommen keinerlei führende chilenische Militärs oder Politiker in diesem Film vor. Diese damals kritisierte "Aufweichung" kommt dem Film 25 Jahre nach seiner Entstehung zu Gute und läßt heute, da die damaligen Ereignisse längst verblasst sind, viel stärker erkennen, worauf es Costa-Cavras tatsächlich ankam. Mit der Story um einen Vater und dessen Schwiegertochter, die den Sohn bzw. Ehemann suchen, der unmittelbar nach Beginn der Unruhen verschwand, gelingt Costa-Cavras eine Geschichte über den Generationskonflikt zwischen jungen Menschen, die noch auf der Suche nach einem eigenen Lebensweg sind, und ihrer Elterngeneration, die es geschafft haben und ein berechenbares bürgerliches Leben führen - ein bis heute aktuelles Thema.

Diese scheinbare Betonung des "Privaten" verschleiert ein wenig die hier keineswegs ausgesparte, konkrete Kritik am System. Nur kritisiert Costa-Cavras in "Missing" nicht explizit das diktatorische Regime - da genügt ihm die Darstellung der Abläufe - sondern vor allem das amerikanische System, daß hier zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen, eindeutig seine Finger im Spiel hat und dafür auch über Leichen geht. Ich kann nicht mehr beurteilen, wie provokativ diese These damals noch gewesen ist, aber heute kann diese Vorgehensweise schon als allgemeingültige Tatsache angesehen werden - vielleicht hat auch dieser Film zu diesem Bewußtsein beigetragen.

Gerade aus der heutigen Sicht gefällt die Subtilität und Unaufgeregtheit, in der Costa-Cavras die tatsächlich ungeheuren Vorgänge erzählt. Im Gegensatz zu "Z" ,bei dem man immer die Wut des Regisseurs spürt, nimmt sich Costa-Cavras hier zurück, was die tragischen Ereignisse erträglich werden lässt. An dieser Inszenierungsweise kann man sehr gut die Sensibilität des Regisseurs feststellen, der genau spürt, daß ein trockener politischer Stoff wie "Z" einen polemischen, extremen Stil benötigt, während die hier schon grundsätzlich berührende Story am besten einen zurückhaltenden Stil verträgt.

Seine Film bleibt dabei immer abwechslungsreich, schnell erzählt und verfügt über einige Spannungsmomente, profitiert aber besonders von den überragenden Schauspielern Sissy Spacek und besonders Jack Lemmon. Dessen Darstellung des amerikanischen Geschäftsmannes mittleren Alters kann als Paradebeispiel für die Haltung der bürgerlichen Schicht gelten und ist in ihrer Art kaum jemals übertroffen worden, gerade weil Lemmon auf jegliche Extreme oder Dämonisierungen verzichtet.

Im Gegenteil treibt ihn die Sorge um seinen einzigen Sohn nach Chile, aber gleichzeitig kann er nicht verstehen, warum dieser überhaupt an diesem Ort war. So gibt er zuerst seiner Schwiegertochter Beth die Schuld daran, sucht aber auch im Verhalten seines Sohnes einen Grund für dessen Verschwinden. Sein Sohn Charles (John Shea) hatte für eine als linksgerichtet angesehene Zeitung Artikel übersetzt und auch hier ist wieder die Stärke des Konzeptes zu erkennen, in dem Costa-Cavras bewußt auf eine Überstilisierung des Sohnes als Klassenkämpfer verzichtet. Er und seine Frau waren aus dem Wunsch ,ihren Horizont über das vertraute New York hinaus zu erweitern, vor Jahren nach Chile gekommen und die Ereignisse hatten sie eher überrollt. Allein eine gewisse Aufmerksamkeit und Beobachtungsgabe gegenüber den Ereignissen genügte, um Charles in den Augen der Machthaber suspekt wirken zu lassen.

Dank des differenzierten Spiels der Protagonisten, verdeutlicht Costa-Cavras sehr schön, wie wenig letztendlich dazu nötig ist, um in Konflikt mit politischen Interessen zu geraten, wie schon ein kleines Ausscheren aus dem üblichen bürgerlichen Lebensweg dafür ausreicht, um von seiner Familie und der vertrauten Umgebung mit Unverständnis betrachtet zu werden und wie schnell die Illusionen in die Gerechtigkeit und Moral verloren gehen, wenn man - wie Edmund Hormann in "Vermisst" - sich wirklich mal den Realitäten stellt. So bleibt der sonst sehr redselige und argumentationsstarke Hormann der oben zitierten Aussage des sinistren Botschaftsmitarbeiters einen Widerspruch schuldig...

Fazit : "Vermisst" ist oberflächlich betrachtet ein klassischer, gut erzählter Hollywood-Film über die Suche nach einem vermissten Sohn in dem durch einen Militärputsch gebeutelten Chile. Im Gegensatz zu seinem früheren Werke "Z" beschäftigt sich Costa-Cavras hier mit dem persönlichen Schicksal des Opfers und seiner Angehörigen - die politische Dimension, besonders im Zusammmenhang mit der Machtübernahme des Generals Pinochet (der gar nicht erwähnt wird), wird im Hintergrund geschildert.

Das brachte Costa-Cavras einige Kritik ein und schadete auch der Reputation des Werkes. Tatsächlich gelingt ihm auch in "Vermisst" die Darstellung eines eindeutigen Musters - nämlich das der Ignoranz und des Nichtwissens des größten Teils der Bevölkerung, daß sich gemütlich zu Hause die Ereignisse im Fernsehen ansieht, während vor Ort auf Kosten zahlreicher Toter und der Unterdrückung eines Volkes die Mächtigen ihre Interessen wahren. Bei dieser Beschreibung verzichtet Costa-Cavras sowohl auf Parolen als auch auf Lösungswege - ein gewisser Fatalismus, den er in "Z" noch nicht zeigte, ist hier unverkennbar.

"Vermisst" ist eine geniale Mischung aus Privatheit und Politik, optisch gefällig erzählt und großartig in seinen Schauspielerleistungen und mit 10 Punkten eher zu niedrig bewertet (10/10).

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