Review

Betrachtet man Paul Verhoevens Filme vom heutigen Standpunkt aus , so fällt auf, dass "Das Mädchen Keetje Tippel" sehr gut in dessen Gesamtkonzept passt und viele Elemente beinhaltet, die seine Filme bis heute ausmachen. Trotzdem ist das Werk größtenteils in Vergessenheit geraten und wird nur selten bezüglich seines Einflusses erwähnt.

Dafür lassen sich schnell Argumente finden, da Paul Verhoeven selbst eher unzufrieden war mit dem filmischen Ergebnis. Sein Produzent hatte zuletzt Hand angelegt und vor allem hinsichtlich der politischen Aussage Veränderungen vorgenommen. Angesichts der auf einer wahren Autobiografie basierenden Ereignisse während des Frühkapitalismus 1890 in den Niederlanden, kann man nur ahnen, dass Verhoeven diese durchaus auch als Kritik an den bestehenden Verhältnissen im Jahr 1975 verstanden hat - wie es üblicherweise seine Art war. Denn in dieser Hinsicht bleibt "Keetje Tippel" trotz seiner deutlichen Darstellung der Missstände merkwürdig diffus und man kann davon ausgehen, dass Verhoeven seinen Film nicht als folkloristischen Blick in eine (glücklicherweise) abgeschlossene Vergangenheit verstanden hatte, sondern auch aktuelle Auswüchse damit anprangern wollte.

Neben dieser Verwässerung der Aussage, kam dem Film ausgerechnet der Fakt nicht zu gute, dass alle entscheidenden Mitwirkenden an dem großen Erfolg "Türkische Früchte" wieder mit dabei waren. So etwas erzeugt bekanntlich eine Erwartungshaltung und die konnte "Keetje Tippel" nicht erfüllen, da der Film den genau entgegengesetzten Weg geht. Während "Türkische Früchte" von dem Mikrokosmos einer intimen Beziehung zwischen Mann und Frau ausgeht und an Hand der dort extrem ausgedrückten und -gelebten Gefühle ein Bild der sie umgebenden Gesellschaft zeichnet, handelt es sich bei "Keetje Tippel" um eine Aneinanderreihung von Szenen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse komplex verdeutlichen, aber gleichzeitig kaum Emotionen ausdrücken.

Sehr gut kann man das an den Sexszenen erkennen, die hier wieder in aller Deutlichkeit das Geschehen mitbestimmen. Während diese in "Türkische Früchte" ganz selbstverständlich aus den starken Gefühlen heraus entstanden und entweder Frust oder Freude ausdrückten, so sind sie in "Keetjy Tippel" nur Ausdruck von Macht und Abhängigkeit. Spaß, Zärtlichkeit oder Lust beim Sex lässt Verhoeven völlig weg, was dem Film auch den pornografischen Vorwurf einbrachte, aber hinsichtlich seiner Intentionen nur konsequent ist.

In einem Punkt aber ähnelt "Keetje Tippel" den "Türkischen Früchten" auf das Genaueste - in der Figur der Hauptdarstellerin Monique van der Ven, die hier als titelgebende Keetje noch stärker im Mittelpunkt steht. Angesichts der auch hier wieder zwischen Selbstbewußtsein, Naivität, leichter Verrücktheit und Unabhängigkeit changierenden Darstellerin, ist nicht nur Verhoevens Vorliebe für starke Frauen zu erkennen, sondern man gewinnt auch den Eindruck, dass sich Monique van der Ven immer selbst spielt, so sehr ähneln ihre Mimik und ihr Gestus der ihrer Figur in "Türkische Früchte". Vielleicht wollte Verhoeven damit auch einen Gegenwartsbezug herstellen, denn trotz des historisierenden Ambientes ,wirkt "Keetje Tippel" äußerst modern.

Dazu trägt auch die gemeinsam mit seinem Kameramann van Bont entwickelte Optik bei, die dem Film eine sehr edle Anmutung gibt und mit ausschweifenden Kamerafahrten und grafisch sehr schönen Einstellungen im totalen Gegensatz zum meist armseligen Geschehen steht. Dieser künstlerische Ansatz wurde erwartungsgemäß heftig kritisiert, denn er wendet sich gegen die Maßstab gewordenen sozialkritischen Werke, die sozusagen mit jeder Pore die geschilderte Tristesse atmen. Auch darin ist wieder Verhoevens Intention zu erkennen, trotz seiner harrschen Kritik, immer Filme für ein größeres Publikum schaffen zu wollen. Im Gegensatz zu seinem intensiven Film "Türkische Früchte" ,dem man allgemein seine Emotionen abnahm, kam hier erstmals die später noch oft geäußerte Kritik auf, dass Verhoeven drastische Geschehen nur zu Gunsten eines äußerlichen Effektes beim Publikum nutzen will.

Besonders galt das in "Keetje Tippel" für die Vergewaltigungs- und Entjungferungsszene, die in den gezeigten Fassungen meistens herausgeschnitten wurde. Dabei ist hier gerade Verhoevens Meisterschaft zu erkennen, die symbolisch für die Gestaltung des gesamten Films gilt. Keetje war gemeinsam mit ihrer vielköpfigen Familie von den friesischen Inseln nach Amsterdam gekommen, weil sich hier die Menschen im ausgehenden 19.Jahrhundert eine Zukunft und den Ausbruch aus der Armut versprachen. Doch schon ihre Unterkunft in einem nassen Kellerloch lässt erahnen, dass Amsterdam nicht unbedingt auf die Massen an armen Landsleuten gewartet hat. Keetje bekommt zwar sofort einige Jobs vermittelt, aber diese bedeuten knochenharte Arbeit für einen Hungerlohn. Doch das wäre nicht das Schlimmste, wenn nicht jeder Einzelne nur an seinen eigenen Vorteil denken würde und selbst die kleinste Machtposition nur dazu genützt würde, andere meist sexuell zu erniedrigen.

Verhoeven gelingt eine solch dichte Schilderung dieser Verhältnisse, dass der Betrachter schon ahnt, was passieren wird, als Keetjes Chef alle anderen Mitarbeiterinnen nach Hause gehen lässt. Doch wie Verhoeven diese Szenerie umsetzt ist, ist exemplarisch für eine Eingliederung eines schrecklichen Gewaltverbrechens in die Normalität. Keetje - noch ganz unschuldige junge Frau - macht Schattenspiele an der Wand bis plötzlich ,fast unwirklich ,ein erigierter Penis seinen Schatten darauf wirft. Keetje dreht sich erschrocken um und starrt auf ihren Chef, der seinen Penis wie eine Waffe vor sich trägt. Die eigentliche Vergewaltigung geschieht sehr schnell. Keetje rennt so schnell wie möglich weg und Verhoeven zeigt den Chef im Halbdunkeln wie er seinen blutigen Penis abwischt und sich erstaunt darüber wundert, dass er der erste war.

Aus dem Haus gelaufen, dreht sich Keetje noch einmal schnell um und wirft einen Stein in die Fensterscheibe des Hutladens. Der Fakt, daß Verhoeven danach sofort das Geschehen fortsetzte und weder emotional noch praktisch auf diese Szene zurückkam, hat ihm heftige Kritik eingebracht, aber diese Gestaltung liegt ganz in der gestalterischen Linie. Schon als Keetjes Familie in der ersten Nacht aufwacht und feststellen muß, dass das Wasser kniehoch in ihrer Wohnung steht, fängt Niemand an zu jammern oder gar die Verhältnisse anzuprangern. Im Gegenteil springen die Kinder fröhlich durchs Wasser und man macht das, was man machen muß - das Wasser wieder herausschöpfen.

Gerade durch diese Art der Schilderung verstärkt sich für den Betrachter das Gefühl des totalen Ausgeliefertseins. Verhoeven beschönigt dabei nichts und betont das noch damit, in dem er das unsolidarische Verhalten der Armen untereinander schildert. So wird Keetje, als sie - eher unwissend über deren Bedeutung - die "Internationale" singt, von ihren Kolleginnen mit "Oranje boven" und "Willem III" Geschrei niedergebrüllt. Und die emotional schlimmste Szene im Film ist eben nicht die Vergewaltigung, die in vielerlei Arten ständig droht, sondern die Tatsache, dass Keetje von ihrer eigenen Mutter auf den Strich geschickt wird. Die Szene, als sich die Mutter von dem ersten Geld, dass ihre Tochter so verdient, eine Wurst kauft und zu essen beginnt, während sich ihre Tochter dem nächsten Freier anbietet, ist von absoluter Grausamkeit und stellt den Wendepunkt des Films dar.

Denn so lernt sie einen Maler kennen und dadurch auch dessen Freunde Hugo (Rutger Hauer) und Andre (Eddie Brugman). Gemeinsam mit den Bohemians, die begeistert sind von der hübschen Keetje, lernt sie zum ersten mal ein Leben kennen, daß nicht ständig von Hunger und Ängsten geprägt ist. Sie zieht spontan mit Hugo zusammen, der einen guten Job bei einer Bank hat. Doch selbst diese Beziehung, die ja die selbe Konstellation wie in "Türkische Früchte" einnimmt, hat nichts Leidenschaftliches. Schnell geht Hugo das Geld für seinen aufwändigen Lebensstil aus und er bringt Keetje dazu , andere Leute zu beobachten, um deren Kreditwürdigkeit festzustellen...

Verhoeven vermeidet in seiner Darstellung jeglichen pittoresken oder beschönigenden Eindruck und damit auch spezielle Schuldzuweisungen. Trotz der Darstellung der gewalttätigen Niederschlagung einer Demonstration durch die Polizei, wird hier nicht das System oder die Gesellschaft in abstrakter Form kritisiert, sondern die Menschen jeder Schicht, die diese Verhältnisse zu verantworten haben. Damit geht Verhoeven den unbequemsten Weg, da er keine schlüssigen Feindbilder anbietet und entsprechende Erwartungshaltungen nicht befriedigt - einzig in der Figur der Keetje sieht er einen positiven Lichtblick. Und damit erschließt sich auch seine Aussage, die für ihn sicherlich auch in der Gegenwart gilt - nur durch einen unabhängigen Geist und Charakter, der sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen opportun macht und es nicht nötig hat, Macht über andere auszuüben, können die gesellschaftlichen Verrhältnisse wirklich verändert werden.

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