Wer auf der Suche nach einem Film ist, der alle Klischees über die vermeintliche Rückständigkeit der italienischen Gesellschaft hinsichtlich ihres Umgangs mit den Geschlechterrollen bestätigt, wird bei „Gastmahl der Liebe“ fündig werden. Doch Pier Paolo Pasolinis hochgradig amüsante Dokumentation bietet noch weitaus mehr. Das puritanische, erzkatholische Italien der 60ziger Jahre demaskiert sich in diesem faszinierenden Zeitdokument selbst- ohne viel wertendes Zutun des Regisseurs, der aber stellenweise auch mit offenkundiger Belustigung und gelegentlicher Fassungslosigkeit auf die Beantwortung seiner Fragen reagiert.
Dabei wird keine Bevölkerungsschicht ausgelassen: Auf einer Reise quer durch Italien befragte Pasolini sowohl die Oberschicht und Intellektuelle als auch das von ihm wie üblich biestig beäugte Kleinbürgertum und das Proletariat- auf der Straße, in Cafés, auf dem Feld, am Strand und im Schwimmbad. Die Ergebnisse dieser Umfrage werden in verschiedenen Kapiteln mit variierenden Oberpunkten wie „Sexualität als Schande“, „Sexualität als Vergnügen“, „Sexualität als Pflicht“ und „Sexualität als Sport“ präsentiert. Was hier zutage tritt entringt dem Zuschauer viel Schalk, phasenweise aber auch nur ungläubiges Staunen. Inwiefern Pasolini hier bewusst liberale Antworten ausgegrenzt hat ist sicherlich einen Zweifel wert, allerdings unterschlägt er die aufgeschlossenen Statements gerade junger Frauen auch nicht. Katastrophal steht es hingegen um die Mehrzahl der italienischen Männer: Alle, aber auch wirklich alle Klischees über das sonnig kultivierte, mittelalterliche Machismo des italienischen Mannes werden nicht nur bestätigt sondern sogar noch übertroffen.
Einleitend befragt Pasolini einige Kinder auf der Straße.„Woher kommt ihr? Wie seid ihr entstanden, wie wurdet ihr geboren?“.Verlegene, große Augen. Und in den folgenden Antworten der Beleg, das die Geschichte vom Klapperstorch mit dem Körbchen auch damals noch weit verbreitet war. Das ein akuter Nachholbedarf in Sachen Aufklärung besteht kristallisiert sich im weiteren Verlauf überdeutlich heraus.
Fünf Fragen stehen im Zentrum des Films: Wie stehen die Italiener zur öffentlichen Diskussion von Sexualität, wie zu Ehe und Scheidung, zu sexuellen Anomalien, zum neuen Gesetz das zur Schließung von Bordellen und verstärkter Straßenprostitution führt und zur sexuellen wie gesellschaftlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Die Antworten auf diese Fragen sind markerschütternd- ernüchternd. Das letzte Kapitel beschreibt Pasolini im Off-Kommentar (der sonst kaum angewendet wird) mit den Worten: „Aufgabe des Regisseurs jeglicher ideologischer Ambitionen, stattdessen ein Versuch, dem heißblütigen, unschuldigen und schwierigen Italien der 60ziger ein Denkmal zu setzen“. Und das ist ihm wahrhaftig gelungen.
„Ist das Problem der Sexualität wichtig für Sie und befürworten Sie öffentliche Gespräche darüber?“
Diese grundsätzliche Frage zieht sich durch den ganzen Film und dient Pasolini als Aufhänger. Laut seiner Aussage reagierte ein Großteil der Befragten bereits hier mit ablehnendem Schweigen. Die verzeichneten Reaktionen sind aber auch eine Klasse für sich. Man ist dafür (weil das den Umgang mit dem „Problem“ erleichtert und zur modernen Lebensart gehört- eher weniger) oder dagegen weil „das unanständig ist und sich nicht gehört. Es wird in Italien viel zuviel darüber gesprochen.“ (überwiegend) Und ob denn das Problem der Sexualität wichtig sei? „Ja, natürlich, sehr!“ (Überwiegende Antwort der männlichen Befragten). „Ja, nur sollte man darüber nicht reden“ (überwiegende weibliche Antwort). Tatsächlich finden sich auch dritte Stimmen, die das alles für „zweitrangig“ und uninteressant finden, ja gar eine die Sexualität für etwas wichtiges, aber auch trauriges hält. Aber das sind ohnehin die „Nerds“- und genauso stellt sie Pasolini auch dar, gemäß seiner eigenen, hoffnungsvollen Sichtweise von Sexualität. Auffällig ist aber schon hier die errötende Zurückhaltung der Frauen, die wohl nicht gerne damit herausrücken wollen- während die Männer verlegen bis stolz grinsend ihre Meinungen zum Besten geben. Ein latent chauvinistischer, sexistischer Unterton schwingt bereits hier mit. Ich möchte nicht behaupten das eine solche Umfrage in Deutschland grundlegend andere Ergebnisse erzielt hätte- denn in Sachen Fortschritt trat man hierzulande in diesen Jahren schließlich auch ein wenig auf der Stelle- aber das Verhalten der männlichen Befragten entspricht tatsächlich genau der Vorstellung, die der deutsche Zuschauer sich davon macht.
„Fühlen Sie sich ihren Mitmenschen gegenüber sexuell normal und was empfinden Sie für sexuell Anomale?“
Betretenes Schweigen und völlige Ratlosigkeit. Die Hälfe der Befragten scheint offenbar noch nie von sexuellen Anomalien gehört zu haben, nur die Redewendung wenn man von jemandem spricht der „anders rum“ ist scheint bekannt zu sein. Was damit gemeint ist- darüber stammelt hauptsächlich unsichere Worte. Und natürlich empfindet man nur Mitleid und Abscheu vor solchen Entgleisungen. Ein im Zug befragter Familienvater behauptet gar, seine Kinder würden niemals sexuelle abnormal werden, denn das seien „nicht solche“. Oder eine junge Dame die auf die Frage, wie sie reagieren würde wenn ihre Kinder sich als sexuell andersartig entpuppen würde: „Das will ich doch wohl nicht hoffen!“ Ebenso kühn wie lächerlich und bezeichnend für den Querschnitt durch die gesamte Umfrage. An einem bestimmten Punkt scheint die Vorstellungskraft der Befragten schlicht überschritten, ganz besonders auch dann, wenn es um Emanzipation und Scheidung geht. Jedenfalls sind sexuelle Anomalien ganz offensichtlich etwas ganz und gar exotisches von dem kaum etwas bekannt ist.
„Fühlen Sie sich frei und sind Sie der Meinung, das Frauen und Mädchen heute freier sind als früher? Wenn ja- was halten Sie davon?“
Spätestens hier entgleisen dem Zuschauer von Welt sämtliche Gesichtszüge. „Frauen müssen dem Mann unterstellt sein. Immer!“- „Warum?“ – „Weil das eben so ist.“
Im besten Falle wird noch von althergebrachten Traditionen gefaselt doch insgesamt sind plausible Begründungen für diese erdrückend mehrheitliche Antwort erschreckend dünn gesät. Besonders im heißen Süden (Sizilien- Pasolini attestiert dem Norden bald ein deutlich höheres Maß an Liberalität und Aufgeschlossenheit) begegnet man(n) dieser Frage mit völligem Unverständnis. Warum denn die Frauen und Mädchen hier nie alleine auf der Straße zu sehen wären und sie im Gegensatz zu den Jungen und Männern bis zur Ehe Jungfrauen bleiben müssten und überhaupt: Warum werde ein Mädchen, das sich die gleichen Freiheiten wie ein Junge herausnimmt gleich angegriffen und verhöhnt? „Das ist hier schon immer so. Ist auch besser- sonst würden die Frauen ja machen was sie wollen!“
Man betont zwar immer wieder das man so rückständig doch gar nicht sei doch der Optimismus des Zuschauers der zu diesem Zeitpunkt bereits überwältigt von soviel Urigkeit begeistert in die Sitzlehne beißt, ist längst vor die Hunde gegangen. Zunehmend sind auch Stimmen von resoluten Mammas, Müttern mit ihrem umfangreichen Nachwuchs im Schlepptau, zu hören die sich vehement und mit neapolitanischem Temperament gegen die neue Eigensinnigkeit der Mädchen aussprechen. Das wäre schlecht für die Familie und gottlos.
Man ist sich also einig darüber, das Mädchen und Frauen heute mehr Freiheiten genießen würden- doch früher war alles besser. Das sagen nicht alle, aber die meisten Befragten aus, ob männlich oder weiblich.
„Halten Sie die Ehe für die Lösung des sexuellen Problems und sind Sie für ein Gesetz, das die Scheidung zulässt?“
Ein wunder Punkt. Definitiv. Die Frage, ob ein Gesetz dass die Scheidung erlaubt nicht in jeden liberalen, modernen Staat gehört, stellt sich gar nicht erst. „Absolut dagegen“, das sagt der Kanon der männlichen Befragten mit dem Brustton der Empörung. Der bloße Gedanke scheint ihnen Angstschauer über den Rücken zu jagen. Wo kämen wir schließlich hin wenn die Frau plötzlich die Beziehung von sich aus beenden könnte?„Wenn sich aber Mann und Frau nicht mehr verstehen und sich gegenseitig totschlagen, wäre eine Scheidung dann nicht das vernünftigste?“ fragt Pasolini einen jungen kalabresischen Pfundskerl.„Nein, dann lieber totschlagen!“
Die Publikumsreaktionen auf diese Antwort muss ich wohl nicht näher beschreiben. Die Frauen sprechen sich zwar tendenziell eher positiv aus, allerdings schimpfen auch hier einige über diese anarchisch anmutende modische Idee- und pflichten ihren Männern bei, das ein Bund fürs Leben eben ein Bund fürs Leben ist und die Frau schließlich nicht machen könne, was sie wolle. Erleichternd immerhin, das dennoch die Anzahl der wohl gesonnenen Stimmen überwiegt.
Ob die Ehe denn die Lösung des Problems Sexualität darstellen würde?
Hier sind es abermals Frauen und Mädchen die verneinen. Nur eine rundliche Kiosk-Besitzerin am Strand von Genua berichtet strahlend, das dieses Problem in ihrer mittlerweile 25jährigen Ehe noch nie aufgekommen wäre.
Und ganz wichtig: Die Funktionalität der Ehe! Ein Gesetz das die Scheidung ermöglicht wäre schließlich das Grab der Nation- denn die Nation begründet sich schließlich auf der Familie und all ihren Werten. Der hohe Stellenwert der Familie, eines der unverwüstlichsten italienischen Klischees, wird durch die Bank bestätigt. Und das von den Jungen am Strand ebenso wie von ihren Großmüttern. Schließlich könne man Sexualität und Ehe voneinander trennen- wenn der Sex in der Ehe also nicht funktioniert ließe sich das durch einen Seitensprung hier und da doch bereinigen. Das spricht zwar keiner der Männer aus, die Frauen jedoch ergänzen ihre Aussagen nur.
„Ist das Verbot von Bordellen Ihrer Meinung nach negativ zu werten und halten Sie Prostitution allgemein für etwas erstrebenswertes?“
Wer nun dachte dass keine Steigerung mehr möglich sei, hat sich im trügerisch Trockenen geglaubt. Die Abschaffung von Bordellen ist nämlich ein handfester Skandal. Während eine Handvoll Akkord-Arbeiterinnen befremdet über die besser verdienenden „Kolleginnen“ auf dem Strich sprechen- „Ich könnte das nicht- ich will schließlich anständig sein! Es wäre besser wenn diese Mädchen es uns gleich tun würden!“- und sich beinahe alle weiblichen Befragten gegen Prostitution aussprechen regiert unter den Männern der Ärger über das von einer MinisterIN erlassene Gesetz. „Es geschehen schreckliche Dinge- die Jungen gehen zu den wilden Tieren und den Perversen die’s mit Männern treiben weil sie nicht mehr wissen wohin!“ (…) echauffiert man sich in Neapel und Palermo. Denn die Prostituierten würden verschwinden, seit man sie vor die Tür gesetzt hat. Geschlechtskrankheiten breiten sich aus. Und darüber hinaus seien auch die Löhne viel zu niedrig um den inzwischen gestiegenen Preis der käuflichen Liebe noch aufzubringen. Eine Stadt ohne Freudenhaus- das scheint beinahe noch unheimlicher als die Vorstellung einer Stadt ohne Kirche. Und die Betroffenen Straßenmädchen selbst klagen über ihre Obdachlosigkeit und den Mangel an Kundschaft.
Im letzten Kapitel- der „Kapitulation“- geht es dann wild durcheinander- verschiedene Stimmen, verschiedene Ansichten, verschiedene Fragen. Doch der Grundton bleibt derselbe, nur das nun ein fröhliches Chaos vorherrscht. Ein Resümee zieht Pasolini nicht- wohl wissend das der Zuschauer ein solches nicht mehr benötigt. Die Antworten der Befragten selbst waren sämtlich mehr als aufschlussreich.
Der Eindruck einer gewissen Eindimensionalität betreffs der befragten Männer täuscht nicht. Trotzdem will ich der Gerechtigkeit halber darauf hinweisen das in jeder Episode stets auch einige Männer- vornehmlich junge- den fortschrittlichen Äußerungen der Frauen beipflichten, das die modernen, zeitgemäßen Überzeugungen nicht allein der holden Weiblichkeit gehören. Doch dem gegenüber wirkt das geballte Repression der stolzen, maskulinen Italiener- Pasolini spricht auch mehrmals von typisch italienischer Sexualprotzerei, die er besonders einer Truppe von überwiegend draufgängerischen Wehrpflichtigen und einer Jungen-Clique im Schwimmbad nachzuweisen versucht- geradezu erdrückend und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Bekanntermaßen hat sich in Italien seit den 60ziger Jahren (Gott sei dank!) einiges getan. Dennoch sollte sich keine Frau, die mit sich den Gedanken trägt, im Stiefel ihre Zelte aufzuschlagen, „Gastmahl der Liebe“ ansehen. Ein gewisser Abschreckungseffekt dürfte unvermeidlich sein.
Nur selten brechen im übrigen philosophische und politische Momente durch. Nur in den Gesprächen mit dem bekannten Schriftsteller Alberto Moravia driftet Pasolini ins psychoanalytische, sozialethische ab und nur einmal fragt er einen jungen Mann ob bestimmte Verhaltensweisen eher im linken (seinem eigenen) oder rechten Lager zu suchen wären. Das Interview mit einer Gruppe von Studenten der wirtschaftlichen und politischen Universität Bologna fällt dann auch eher pragmatisch aus.
„Gastmahl der Liebe“ ist ein einzigartiges, entlarvendes Dokument einer Zeit in der sich in Italien- aber auch in anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Spanien, Griechenland und der CSSR- offensichtlich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Man möchte kaum glauben wie rückständig die breite Volksmasse dieses Landes - immerhin eine der wichtigsten, einst auch innovativsten Kunst- und Kultur-Nationen Europas - über Sexualität, Geschlechterrollen und gesetzliche Regelung derselbigen seinerzeit dachten. Angesichts immer neuer präemanzipatorischer, chauvinistischer Untiefen, die durch die zahlreichen kritischen und frischen, modernen Stimmen kaum relativiert werden können bleiben dem Zuschauer mehrmals Mund und Nase offen stehen. Es sollte hier allerdings darauf hingewiesen werden das hier nicht die Dummheit eines Landes- denn das wäre eine unhaltbare, entsetzliche Verleumdung- sondern lediglich seine überholten Traditionen und Schubladen-Fundamente angeprangert werden. Und das nicht von einem vorwurfsvollen Off-Sprecher sondern mit der Stimme des Volkes selbst das sich mit seinen Aussagen selbst entlarvt. Ein Film der über seinen verqueren, aber unerschöpflichen Unterhaltungswert hinaus ein hochinteressantes Spiegelbild der gesellschaftlichen Marotten Italiens in einer wichtigen Dekade darstellt.