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Die Handlung ist angesiedelt im New Jersey der frühen Dreißiger Jahre, genauer gesagt in der Weltwirtschaftskrise. Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit und Langeweile trieben die Menschen zur Verzweiflung und die gerade den Kinderschuhen entwachsene Kunstform Film hatte zumeist eine ablenkende Funktion, gerade in Zeiten der Krise will sich der Durchschnittszuschauer nicht weiteren Problemen auf der Leinwand konfrontieren lassen. Aus diesem Grund produzierten beispielsweise die Nationalsozialisten in Kriegszeiten nur wenige Propagandafilme und berieselten die Zuschauer eher mit anspruchslosen, unpolitischen Lustspielen und Heimatfilmen. Ein weiteres Beispiel ist die Bollywood-Industrie, deren Filme vordergründig von einem sozialschwachen Publikum gesehen werden. Ähnlich wie die Menschen während der Weltwirtschaftskrise leichte Kost brauchten, dementsprechend verhält es sich heute auch zum afrikanischen und indischen Publikum, wo die Bollywoodfilme die meiste Verbreitung finden.

Zu diesen Menschen, die ins Kino gehen um für 90 Minuten von der zu Realität flüchten und sich von einer idealisierten Welt umhüllen zu lassen, gehört auch die Hauptprotagonistin. Die Kellnerin Cecilia (wunderbar zurückhaltend und passiv gespielt von Woodys damaliger Ehefrau Mia Farrow) leidet unter ihrem tristen Leben. Ihr arbeitsloser Mann schlägt sie hin und wieder, trinkt viel, schenkt ihr wenig Aufmerksamkeit. Nur im Kino ist sie wirklich glücklich weil sie emotional stimuliert wird, auch wenn es sich nur um ein Abbild der Realität handelt. Als dann aber ihr Traummann aus dem Film heraus tritt und durch die Leinwand in die reale Welt eindringt scheint sich das Leben Cecilias zu verändern. Obwohl sie ihrem Mann sein Verhalten nicht vorwirft blüht sie erstmals in ihrem Leben auf und dasselbe gilt für die Figur des Tom Baxter (Jeff Daniels). Mit seiner Entscheidung, die fiktive Welt des Films zu verlassen lernt er das erste Mal die wahre Tragweite menschlicher Gefühle kennen, nicht bloß ein überkandideltes Abbild der Realität. Tatsächlich scheinen die beiden miteinander glücklich zu werden, doch das Leben ist halt kein seichter Hollywoodschinken.

Gil Shepherd, der reale Schauspieler, der Tom Baxter im Film ‚The Purple Rose of Cairo’ spielte, macht sich nun Sorgen um seine Karriere, reist aus Hollywood an und bringt die ohnehin schon chaotische Situation noch weiter durcheinander. Damit der Film weiterlaufen kann und sich der seltsame Vorfall nicht rum spricht versucht der Schauspieler seine eigens verkörperte Figur zur Rückkehr zu überreden. Gil hat dabei keine moralischen Gründe sondern denkt nur an sein eigenes Schicksal, Tom dagegen ist rettungslos verliebt und glaubt an ein unvermeidbares Happy End. Schließlich ist er nichts anderes gewohnt aus der falschen, oberflächlichen Welt, der er entstammt. Köstlich ist auch die Situation der anderen Figuren denn diese können den Film nicht weiter erzählen, verharren deshalb in einem Zustand totalen Stillstandes, was nicht nur die Kinobesitzer und Zuschauer verblüfft. Aus dieser Ausgangslage entwickelt sich eine philosophisch angehauchte Diskussion über die Doppelbödigkeit und die Aufgaben der Kunst.

Woody Allen selbst ist in keiner Rolle zu sehen und bietet auch nicht, wie sonst üblich, ein männliches Äquivalent zu ihm an. Am meisten gleicht der Hauptcharakter Cecilia noch dem filmbegeisterten Allan Felix aus „Mach’s noch einmal Sam“, ohne aber am Ende eine ähnlich hoffnungsvolle Perspektive zu erhalten. Interessant ist auch, wie Allen am Beispiel von Tom Baxter verdeutlicht, wie sich das Eigenleben von künstlich geschaffenen Figuren verselbstständigen kann und sich mitunter der Kontrolle seiner geistigen Väter entzieht. In den Dialogen hält sich Allen mit Wortwitz zurück und passt die Ausdrucksweise sehr schön seinen Charakteren an, die einerseits aus sozial schwach gestellten bestehen, andererseits aus den unechten Filmfiguren und den schmierigen Stars (üblicher Seitenhieb gegen die Traumfabrik und L.A. im Allgemeinen). Inszenatorisch und dramaturgisch bleibt sich Allen treu, ohne aber in seine (von vielen Kritikern bemängelte) Penetranz abzugleiten. So bleiben typische Grundthemen wie der Tod und das eigene Verhältnis zum Judentum außen vor, zu keinem Zeitpunkt wirkt die gradlinig verlaufende Handlung vollgestopft oder innerlich zu verwickelt. Wie gut der Regisseur sowohl die gesellschaftlichen Bedingungen jener Zeit als auch die dazugehörigen Filme kennt wird deutlich in der authentischen Ausstattung und an den schwarz-weißen Filmsequenzen, die in ihrer Ästhetik den Vorbildern verblüffend nahe kommen.

Jede Figur ist exzellent gezeichnet und wie aus dem Leben gegriffen bzw. wie aus einem alten Schmachtfetzen. Sogar der prügelnde Ehemann, gespielt von einem leicht unterforderten Danny Aiello in Hochform, gewinnt immer mehr menschliche Züge, und zieht mindestens das Mitleid des Zuschauers auf sich. Paradoxerweise liebt er seine Frau wirklich, was glaubhaft rüber kommt, doch seine Seele ist zermürbt von der ausweglosen sozialen Situation. Der noch junge Jeff Daniels brilliert in seiner Doppelrolle, gewinnt beiden Figuren die gegebene Tiefe ab und schafft es, in beiden Rollen glaubhaft einen völlig verschiedenen Menschen darzustellen, besonders gut gelingt ihm die kindliche Begeisterung des Tom Baxter über all die kleinen Wunder, die er noch entdecken will. Als er zum Schluss einerseits verlässt (Gil) und andererseits verlassen wird (Tom) zeigt er seine schauspielerische Bandbreite, obwohl er zuvor nur in „Zeit der Zärtlichkeit“ eine anspruchsvolle Rolle meisterte und somit noch sehr unerfahren war.

Als Cecilia letztlich verlassen und alleine da steht, wird ihr mit einem Schlag die Realität vor Augen geführt. Aufgrund der wundersamen Ereignisse der letzten Zeit hat sie sich doch noch eine Wende in ihrem langweiligen und hoffnungslosen Leben erhofft. Ihrer eigenen Naivität ist die vorher so bodenständige Frau zum Opfer gefallen und bleibt tief verletzt zurück. Mit all ihren Habseligkeiten, mit denen sie auf Gil wartete, begibt sie sich ins Kino und sieht sich den neuen Film an, Hauptdarsteller ist diesmal Fred Astaire. Nach wie vor ist das Kino für sie da: Nicht um ihr eine falsche Wahrheit vorzugaukeln sondern um sie für kurze Zeit die kalte Wahrheit vergessen zu lassen. Wie dünn die Trennung zwischen Realität und Fiktion sein kann hat Cecilia gerade am eigenen Leib erfahren.

Fazit: „The Purple Rose of Cairo“ gehört zu Woody Allens schönsten Filmen und verzaubert durch die nostalgisch anmutende Inszenierung, stimmt allerdings durch das bittere Ende auch schwer melancholisch. Der ewigen, bedingungslosen Liebe wird auf gnadenlos konsequente Weise abgeschworen zugunsten einer extrem pessimistischen Auffassung des Themas.

09 / 10

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