Review

Hitchcock selbst trägt die Schuld daran, dass sich vor allem um den berühmten Plottwist eine Vielzahl von Legenden ranken. So wurden die Mitarbeiter an dem Film aufs Strengste dazu verpflichtet, kein Wort über den Inhalt zu verraten und auch jeder Trailer und sonstige Informationen wurden vom Meister kontrolliert. Er hielt es scheinbar für unabdingbar, dass Jeder überrascht ist, wenn in der Duschszene der vermeintlichen Hauptdarstellerin der Garaus gemacht wird.

Vielleicht lag Alfred Hitchcock damals damit richtig, dass er um seinen sehr preiswert inszenierten Schwarz-Weiß-Film einen solchen Hype veranstaltete, denn der Erfolg beim Publikum war so überwältigend, dass die Kritiker, die größtenteils sein Werk als plakativ und sensationsheischend verrissen hatten, plötzlich umschwenkten. Das lag aber keineswegs an einer genauen Analyse seines Werkes, sondern an einer Vielzahl von Tabus, die Hitchcock mit "Psycho" brach.

So war allein schon der Anblick einer geöffneten Toilette, in der sich später Beweisstücke fanden, normalerweise im Film nicht gestattet und auch die sehr freizügige Art, in der Hitchcock Janet Leigh als Marion Crane gemeinsam mit ihrem Lover Sam Loomis (John Gavin) zu Beginn in dem heruntergekommenen Hotelzimmer nach dem sexuellen Verkehr zeigt, ist von schwüler Provokation. Diese ergibt sich einerseits aus der Eindeutigkeit des Geschehens - denn üblicherweise wurde die sexuelle Interaktion bestenfalls angedeutet - und andererseits aus dem objektiven Kamerablick heraus, deren voyeuristischer Blick sich heimlich durchs Fenster anschleicht und im Zimmer aus einem tiefen Blickwinkel heraus zusieht.

Die gesamte Story rankt sich ausschließlich um sinistre Handlungsweisen, die damals noch sehr dem Moralkodex widersprachen und Hitchcock nutzt die Neugier des Zuschauers am Verbotenen aus und lässt uns als Mitwisser teilnehmen - in lüsterner, gespannter Erwartung, aber immer mit dem gebotenen Sicherheitsabstand.

Ausgehend vom unehelichen Geschlechtsverkehr über die Unterschlagung einer hohen Geldsumme und ihrer übereilten Flucht, führt Marion Cranes Weg fast folgerichtig zu "Bates' Motel", wo sie von dem freundlichen, jungenhaften Norman Bates (Anthony Perkins) empfangen wird. Obwohl dieser sehr bemüht ist, scheint er unter einer herrischen und eifersüchtigen Mutter zu leiden, die ihm die Hölle heissmacht, nachdem er sich für deren Geschmack etwas zu sehr um Marion Crane gekümmert hatte. Das einsam gelegene Motel hat sonst zwar keine weiteren Gäste, aber die Zimmerwahl für Miss Crane direkt neben dem Empfangszimmer ist kein Zufall, denn Norman Bates hatte ein Loch in die Verbindungswand gebohrt, durch das er dem hübschen Gast zusehen kann. Auch der Zuschauer sieht der sich entkleidenden Marion Crane zu und Hitchcock vollzieht damit den von Beginn an vorherrschenden voyeuristischen Blickwinkel.

Genau in diesem Moment verändert sich der Charakter des Films, denn plötzlich wird der Zuschauer vom Mitwisser zum Unwissenden, denn überraschend stoppt der Spanner sein Vorhaben, bevor Marion Crane in die Dusche geht. Merkwürdigerweise hat sich "Psycho" bis heute vor allem wegen der nun folgenden Szenerie bis zur psychologischen Aufklärung zum Schluss, die den Titel des Films rechtfertigt, seine Berühmtheit gesichert, was aber nicht verhindern kann, dass wohlmeinende Kritiker dem Film inzwischen gewisse Längen oder ein gemächliches Tempo attestieren. In den "Scream" Filmen wurden zum Beispiel die Tötungsszenen mit den hektischen Messerstichen imitiert, so dass sich "Psycho" heute den Ruf des ersten "Slasher"-Films erworben hat - eine Sichtweise, die sicherlich nicht falsch ist, aber äußerst oberflächlich bleibt, denn am stärksten ist Hitchcocks Film in der ersten Hälfte bis zum ersten Mord.

"Psycho" ist ein Film, der schon von der ersten Sekunde an eine beängstigende Atmosphäre aufbaut - der Film "schwitzt" geradezu vor unbefriedigten menschlichen Bedürfnissen. Allein die Kamerafahrt über die amerikanische Grossstadt hinweg zum Hotelzimmer, in dem das Paar sich in der Mittagspause trifft, kann nicht unheilvoller wirken, noch zusätzlich von Hitchcock damit unterstützt, dass er wie in einem Dokumentarfilm den Ort, den Tag und die genaue Uhrzeit einblendet - eine normalerweise für die Story unnötige Vorgehensweise, die aber hier den Charakter eines Anfangs in sich trägt, dessen Ende unmöglich positiv sein kann. Man spürt die Hitze, die über der Stadt liegt und hört Sams Ausreden, der seine finanziellen Engpässe beklagt, weswegen er Marion nicht heiraten könnte. Man glaubt ihm nicht.

Aber man versteht Marion, als sie der plötzlichen Versuchung eines riesigen Dollarbündels nicht widerstehen kann. Dazu ist Hitchcocks Blick auf den schwerreichen Texaner, der plump mit Marion flirtet, äußerst negativ, so dass man diesem schmierigen Kerl den Verlust des Geldes durchaus gönnt. Aber so konsequent sich Marion auch verhält, so stetig steigt ihre Angst. Überall vermutet sie einen Verfolger, der sie gleich verhaftet und Hitchcock lässt den Zuschauer an diesen Beobachtungen teilhaben. Genau verfolgt die Kamera die Vorgänge beim Autokauf, bei dem jede normale Frage gleich den Charakter eines Verdachtes aufkommen lässt.

Die Stärke dieser Szenerie liegt darin, dass Janet Leigh schon hier wie ein Opfer wirkt, obwohl sie ja faktisch die Täterin ist. Ihr Diebstahl wirkt eher wie eine spontane Tat, um damit ihre Hochzeit mit dem unwilligen Sam zu ermöglichen und in sämtlichen weiteren Abläufen, wird man das Gefühl nicht los ,sie schützen zu müssen. Selbst ihr Autokauf wirkt nicht wie ein aktiver Plan, sondern als passive Reaktion auf die Gefahr hin, weiter von dem Motorrad-Polizisten verfolgt zu werden. Hier ist Hitchcocks Meisterschaft zu erkennen, der mit jeder Szene, von Beginn an die späteren Abläufe vorbereitet. So überraschend und ungewohnt für den Erstseher die späteren Wendungen sein mögen, so logisch und atmosphärisch stimmig entwickelt sich die Story von Beginn an - nichts wirkt hier zufällig und gerade Anthony Perkins differenziertes Spiel beinhaltet von Anfang an sämtliche Bausteine, die sein späteres Verhalten begründen.

Hitchcocks Vorliebe für die Manipulation der Zuschaeur war schon lange bekannt, aber er fand immer wieder Methoden, das Publikum aufs Neue hinters Licht zu führen. Die Ermordung der vermeintlichen Hauptperson ist dabei aber nur der Schlusspunkt des ersten Aktes und keineswegs die eigentliche Täuschung. Diese ist viel mehr darin verankert, dass der Zuschauer nicht die Zeichen erkennt, die zu diesem Geschehen hinführen. Er delektiert sich an den gezeigten Tabubrüchen ,bemitleidet das "Opfer der Umstände" Marion Crane und freut sich gerade über deren schlechtes Gewissen und den Wunsch, die Sache wieder gut zu machen, bis er selbst zum Opfer wird...
Genau an dieser Stimmung ist Gus van Sant in seinem "Eins zu Eins Remake" gescheitert, denn man kann zwar die Szenen nachdrehen und die Kameraeinstellungen wiederholen, aber die Empfindungen, die den Zuschauer schon bei dem Blick über Phoenix überkommen, kann er damit nicht einmal entfernt erzeugen.

Die Abläufe nach der Duschszene werden zu recht gerühmt, weil sie äußerst spannend und atmosphärisch dicht sind, aber sie kommen nicht mehr an die unheilvolle Stimmung der ersten Hälfte des Films heran, da Hitchcock spätestens mit dem ersten Mord konkret geworden ist. Doch auch wenn "Psycho" quasi in zwei Akte unterteilt ist, so ist der zweite Teil ohne die manipulative Vorbereitung der ersten Hälfte nicht möglich. Durch den Mord verliert der Zuschauer seine scheinbare objektive Sicherheit, die er aus seinem voyeuristischen Blickwinkel zu haben glaubte. Dadurch kann Hitchcock auch in der zweiten Hälfte seine Strategie weiter führen, die dem Zuschauer scheinbar Fakten an Fakten vor Augen führt und er sich so auf das Actionspektakel einlässt, dass ihm die Lösung, die bei genauer Betrachtung offensichtlich ist ,nicht auffällt. Spätestens mit der Duschszene hatte Hitchcock seine Sinne verwirrt.

Fazit : "Psycho" überzeugt um so mehr, um so genauer man sich auf den Film einlässt, auch wenn man den Plot schon kennt. Denn dann erkennt man die Genialität, die sich hinter der scheinbar so klaren Story verbirgt und das Hitchcock sich hier vor allem ein Opfer ausgesucht hat - den Zuschauer.

Alleine die ersten Sekunden mit der Kamerafahrt zu dem Hotelzimmer, begleitet von einer kongenialen Filmmusik, die zwischen dunklen Rhythmen und kreischend hohen Violinklängen changiert, erzeugen ein solches "Gänsehaut-Feeling", dass man danach sofort abschalten könnte. Doch immer wieder begleiten wir Marion Crane auf ihrem Weg und können uns nicht der soghaften Faszination entziehen, obwohl wir das Ende ahnen... (10/10).

Details
Ähnliche Filme