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French Gangster - vom Sterben und Lügen in Paris"

„Doulos" ist Argot (französische Umgangssprache) und bedeutet „Hut". Aber in der Geheimsprache der Polizisten und der Verbrecher ist es der Name für jemanden, der einen „verpfeift": den Polizeispitzel.
Mit diesen erklärenden Sätzen beginnt Jean-Pierre Melville sein Gangstermelodram „Le doulos" (Der Teufel mit der weißen Weste). Während die Schriften ablaufen, wandert ein Mann mit Hut und Trenchcoat unter einer Brücke entlang. Er verschwindet immer wieder in der Dunkelheit diverser Schatten. Ab und zu erscheint er im gebrochenen Licht von Metallgittern, sein Gesicht ist nie zu sehen. Melville filmt diese Eingangssequenz ohne erkennbare Schnitte in einer 3-minütigen Kamerafahrt. Noch bevor die eigentliche Handlung einsetzt, konfrontiert er den Zuschauer mit einer weiteren Einblendung: „Man hat die Wahl: Sterben ... oder lügen."

Selten war eine filmische Stilrichtung deutlicher und schneller erkennbar. Mit einer unglaublichen Präzision und Souveränität packt Regisseur Melville sämtliche Ingredienzien des klassischen Film Noir bereits in die Anfangssequenz. Ob visuelle (kontrastierende Licht-Schatten-Spiele, schwarz-weiß Kamera, graues Großstadtmilieu) oder inhaltliche Elemente (Zwielichtigkeit, Verrat, Verbrechen und Tod), Melville erweist sich als profunder Kenner der „Schwarzen Serie". Von Beginn an gibt er dem Publikum Rätsel auf. Wer ist der Spitzel? Ist es der Mann unter der Brücke? Ist es der erst später auftauchende Protagonist Silien? Was führt er im Schilde? Auf wessen Seite steht er eigentlich?

Der amerikanische Kultregisseur Quentin Tarantino - ein erklärter Fan und Experte des Gangsterkinos - zählt Le doulos zu seinen Favoriten. Besonders habe ihn fasziniert, dass es einer der wenigen Filme sei, bei denen man über eine Stunde lang so gut wie nichts begreife. Das lag durchaus in Melvilles Absicht. Entgegen dem Rat seines Regieassistenten Volker Schlöndorff bestand er auf der Doppelbödigkeit und Rätselhaftigkeit der Handlung. Eines der Grundprinzipien des Film-Noir lautet: Nichts ist so, wie es (auf den ersten Blick) scheint.

Wer den Film nicht kennt, sollte den folgenden Absatz überspringen. Zumindest bei der ersten Sichtung sollte man ohne jegliche Kenntnis der raffiniert arrangierten Story herangehen. Es lohnt sich.
Der Teufel mit der weißen Weste handelt von den Gangsterfreunden und Maurice Faugel (Serge Reggiani) und Silien (Jean-Paul Belmondo). Ersterer war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Seine erste Tat ist die brutale Ermordung eines befreundeten Hehlers. Die erbeuteten Schmuckstücke vergräbt er. Von Coup No. 2 erzählt er seinem Freund Silien. Dieser zeigt kein Interesse, verhört aber wenig später auf wenig zimperliche Art Maurices Freundin Thérèse und telefoniert daraufhin mit der Polizei. Der Bruch misslingt und Maurice erwacht am nächsten Morgen schwer verwundet bei einem Freund. Ist Silien der Verräter? Und wer hat ihn - er wurde auf der Flucht angeschossen - gerettet? Als die Polizei schließlich Silien in die Enge treibt, landet Maurice in Untersuchungshaft. Silien gräbt daraufhin die von Maurice vergrabene Hehlerware aus, nimmt Kontakt zu seiner früheren Geliebten auf und stellt einem alten Feind eine tödliche Falle. Sämtliche Pläne scheinen aufzugehen. Eiskalt und skrupellos zieht Silien seine tödlichen Kreise. Sämtliche Gegner sind ausgeschaltet, die Polizei in die Irre geführt. Siliens Weste ist rein. Aber Maurice hat noch ein Ass im Ärmel. Auch hinter Schloss und Riegel gibt es Möglichkeiten, Arrangements für besonders gute Freunde zu treffen.

Täuschung über Täuschung. Kaum einer der Beteiligten scheint zu wissen, was eigentlich läuft. Die Polizei tappt ebenso im Dunkeln wie sämtliche Gangster mitsamt dem Kinozuschauer. Nur einer zieht scheinbar unbeirrt die Fäden und treibt die Handlung voran: Silien. Ist er der doulon? Melville lässt uns in dieser Hinsicht lange Zeit im Dunkeln tappen. Es ist ein großes Verdienst des Regisseurs, das man bei einem solchen Verwirrspiel bei der Stange bleibt. Dafür gibt es drei Erfolgsgaranten: Atmosphäre, Darsteller und Story.
Über den mit allerlei Fallstricken und falschen Fährten gespickten Plot wurde bereits genug gesagt. Melville hat auch als Drehbuchautor ganze Arbeit geleistet und Pierre Lesous Roman perfekt für die Leinwand adaptiert. Atmosphärisch ist Der Teufel mit der weißen Weste absolut stimmig durchkomponiert. Bildästhetik, Kameraarbeit und Musikuntermalung verschmelzen zu einer homogenen Einheit. Mit Akribie und viel Liebe zum Detail schafft Melville eine klassische Noir-Atmosphäre.
Melville arbeitet vor allem mit theatralischen Lichteffekten. Gegenstände und Figuren innerhalb eins Raumes werden unterschiedlich stark beleuchtet. Die Räume bekommen durch die Hell-Dunkel-Spiele eine bedrohlich anmutende Tiefe. Es gibt zahlreiche Gegenlichtaufnahmen, die lediglich Silhouetten zeigen. Zudem psychologisiert das Licht die Menschen, je nach Intention werden ihre Gesichter von unten angestrahlt oder nur von einer Seite beleuchtet. Viele typisierte Einstellungen sind symbolisch aufgeladen. Wiederholt werden Treppen benutzt, die meist ins Verderben, mindestens aber ins Ungewisse führen. Häufig wirft das Licht gitterförmige Schatten, um die Zerrissenheit der Charaktere oder die Zerfahrenheit einer Situation zu visualisieren. Die Stadtansichten wirken grau und trist und verbildlichen die pessimistische Weltsicht und Lebenssituation der Figuren.
Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Nicolas Hayers hervorragende Kameraarbeit. Er zeichnet auch für einen der Höhepunkte des Films verantwortlich, bei der Form und Inhalt eine perfekte Symbiose eingehen. Als Kommissar Cain Silien durch eine ausgeklügelte Verhörstrategie immer weiter einkreist, verfolgt ihn die Kamera auf einer vollständigen 360°-Fahrt um den „Befragten".
Auch die Darsteller verschmelzen mit der virtuos arrangierten und inszenierten Noir-Welt. Vor allem der junge Jean Paul Belmondo überzeugt als Titel-„Held". Sein unterkühlt nüchternes Spiel verleiht der ambivalenten Figur die nötige gefährliche Aura. Es war ein kluger Schachzug Melvilles, diese Rolle mit dem Sympathieträger Belmondo zu besetzen, dessen natürlicher Charme das Interesse am zwielichtigen Silien aufrecht hält. Aber auch Serge Reggiani scheint direkt der Gangster-Welt Dahiell Hammets oder Raymond Chandlers entsprungen. Sein melancholisch angelegter und stets traurig dreinblickender Maurice ist der klassische Verlierer, ein Verbrecher mit Prinzipien und Gewissen. Eine verhängnisvolle Kombination. Michel Piccoli genügen lediglich zwei Szenen, um als Gangsterboss Nuttheccio den ausgezeichneten Cast zu veredeln. Neben Piccoli und den beiden Protagonisten hinterlässt insbesondere Jean Dessailly als skrupellos-gerissener Kommissar Clain einen nachhaltigen Eindruck und steht damit auch für einen ehernen Genreregrundsatz: Gut und böse wird auf beiden Seiten des Gesetzes gleichmäßig verteilt. Schwarz-Weiß-Malerei betreibt nur die Kamera, die Charaktere sind allesamt grau.

Jean-Pierre Melville war ein eigenbrötlerischer Perfektionist. Er plante jedes Detail und befasste sich mit allen Aspekten des Filmemachens. Er besaß eine eigene Produktionsfirma und ein eigenes Studio. Drehbücher schrieb er meist selbst, Kameraeinstellungen und Blickwinkel unterlagen einer minutiösen Planung. Diese Arbeitsauffassung brachte ihm nicht selten den Vorwurf eines in Formalismen erstarrten Kontrollfreaks ein. Vergleiche mit Stanley Kubrick waren keine Seltenheit.
Für Der Teufel mit der weißen Weste zahlte sich Melvilles strenges Formbewusstsein aus. Der Film ist auf Augenhöhe mit John Hustons Die Spur des Falken (1941) und Howard Hawks Tote schlafen fest (1946). Jede Szene von Le doulos ist eine Hommage an Hollywoods Schwarze Serie. Jean-Pierre Melville war ein großer Bewunderer des US-Kinos, besonders verehrte er die Gangsterfilme der 1930er und 40er Jahre. So ist das Polizeirevier im Film eine exakte Kopie seines Äquivalents aus dem Genreklassiker City Streets (1931). Nuttheccios Nachtclub heißt Cotton Club, in Anlehnung an den berüchtigten New Yorker Gangstertreff der 1920er und 30er Jahre.
Dem französischen Film konnte er nur wenig abgewinnen. Das brachte ihn schnell in Misskredit bei der überaus patriotischen heimatlichen Filmkritik. Melville sollte hier Zeit seines Lebens einen eher schweren Stand haben. Trotz enormer Publikumserfolge blieben ihm lange Zeit der gebührende Respekt und die Anerkennung seiner Verdienste um den französischen Film versagt. Im Ausland war man da weit weniger engstirnig und feierte Melville zu Recht als Vater des neuen französischen Kriminalfilms. Die Genreklassiker Der eiskalte Engel und Vier im roten Kreis begründeten nicht nur Alain Delons Gangster-Star-Status, sondern bewiesen auch manchem Kritiker (endgültig) Jean-Pierre Melvilles Meisterschaft und Ausnahmestellung im Film Policier.

(9/10 Punkten)

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