Vordergründig steht da zunächst mal ein überaus gewagter Genremix im Raum, irgendwo zwischen Krimi, Sexploitation, Drama, schwarzer Komödie und Splatter, der den Film Noir als Vorwand nimmt, um den Zuschauer vollends zu verstören.
In schwarzweiß gedreht, wird man von sicheren Genreerwartungen eingelullt, die vorgaukeln, man würde sich in einem abgesteckten Gebiet bewegen: Ein Wald, ein altes Auto mit strahlenden Scheinwerfern, die prasselnden Regen durchbrechen, ein Mann in Trenchcoat mit Hut und ein melancholischer Off-Kommentar des (Anti-)Helden. Dann gar zwei vermeintliche Femmes Fatales, die über einem ausgehobenen Grab stehen und jemanden beerdigen. Die Bilder sind eine Illusion, eine Replika des Film Noir, die aufgebrochen wird, sobald der Mann im Trenchcoat die Schwelle des Hauses der beiden Frauen betritt.
Ab hier kehrt Nikos Nikolaidis brutal alle Genreerwartungen nach außen und schockiert mit sexuellen Perversitäten. Der (Anti-)Held wird gefesselt, die bis dahin inzestuös vorgehenden beiden Frauen, Mutter und Tochter, nehmen ihn als neues sexuelles Fokussierobjekt wahr, übergeben sich auf ihn, urinieren auf ihn. Die ekelhafte Dekadenz aus "Das Große Fressen" überträgt sich auf das Mahl zu Tische, mit Kristallgläsern und teurem Besteck, aber die Nahrung wirkt widerwärtig, sie wird sinnentfremdet: aufgenommen, gekaut, wieder ausgespuckt. Manchmal auf die Kleidung, manchmal auf das Besteck, um es dem gefesselten Mann zu reichen. Die Speisen unterscheiden sich in ihrem Schwarzweiß nicht von dem Gore, als die Innereien eines Menschen wie in “Dawn” ausgeweidet und in gläserne Behältnisse gestopft werden. Doch im Gegensatz zu jenen Werken eines Romero oder Ferreri stehen Sex und (bevorzugt sadomasochistische) Gewalt hier nicht im Rahmen der Genreerwartungen, sondern außerhalb; sie brechen herein wie eine Invasion von Fremdkörpern. Und das ist das wirklich Schockierende. Pornographisches, Splatter und Gore sind vorhanden, jedoch beileibe nicht so explizit wie in Filmen, die aus diesen Gründen gemacht wurden. Das Fremde an ihnen verleiht ihnen hier die unerträgliche Intensität und lässt sie gar noch wirkungsvoller erscheinen als die rein grafisch offensichtlicheren Szenen in Genrefilmen.
"Singapore Sling" scheint es einzig und allein um cineastische Tatbestände zu gehen. Der Film ist hier nicht Medium zum Transport gesellschaftlicher oder sozialer Werte, sondern er bezieht sich voll und ganz auf seinesgleichen. Er möchte Zäune einreißen, selbstreferenziell darauf verweisen, wozu der Film als Medium fähig ist. Dass diese Fähigkeiten durch die Genrekategorisierungen - und der hier verwendete Film Noir ist sicher eines der prägnantesten Genres überhaupt - immer wieder unterschätzt werden, erkennt man daran, wie sehr "Singapore Sling" das sittliche Empfinden des Zuschauers berührt - Der Kultursender Arte scheint den Hinweis für diesen Film maßgeschneidert zu haben.
Dementsprechend gestaltet sich auch die narrative Struktur. Manchmal begibt sich Nikolaidis wirklich in trashige Gefilde; Der Vater treibt in einer Rückblende bei der Vergewaltigung seiner Tochter wie eine Mumie bandagiert sein Unwesen, mitten in einem scheinbar extra für diese Prozedur hübsch ausstaffierten Raum voller Vorhänge und Ketten, und ein klein wenig erscheint dieser Moment wie eine Mischung aus der unbeholfenen Metaphorik der Ed Wood’schen Travestie-Halbbiografie “Glen or Glenda” und dem Verbund von primitivem Horror und inhaltlich-ästhetischem Anspruch wie in “Dellamorte Dellamore” gesehen.
Ein klares Muster ist jedoch weder erzählerisch noch dramaturgisch zu erkennen, ja nicht einmal in den Dialogen. Wirr, hilflos wird zwischen verschiedenen Sprachen gewechselt: während der gefangen genommene Off-Erzähler stets griechisch spricht und auch tatsächlich nur aus dem Off kommentiert und kein Wort in der Szene selbst, unterhalten sich die beiden Frauen stets auf englisch, nur um hin und wieder, insbesondere in hektisch-emotionalen Szenen, ins Französische zu verfallen. Ebenso steht es um die Erzählperspektive; der Off-Kommentar des Mannes verliert nur allzu schnell an Wert, als die Tochter beginnt, dem Zuschauer mit dem Gesicht zugewandt von der Vergangenheit zu erzählen. Als wenn sie stets von der Gegenwart ablenken wolle, wird der Regisseur immer wieder seiner Erzählform untreu. Was nur ein weiterer Schritt gen Wahnsinn ist, der von den Nymphen ohnehin schon vorgetragen wird. Gerade die jüngere der beiden Frauen, diejenige, deren Figur im Film als Unterdrückte dargestellt wird, stellt dies so erschreckend authentisch dar, dass man manches Mal an daran zweifeln möchte, dass das gespielt sein soll.
Gefährlich nahe bewegt sich das Werk dabei an der Grenze zum Selbstzweck, wird doch immerhin kein richtiges Psychogramm der Frauen erstellt, sondern nur mit einem gewissen Maß an Voyeurismus das Ergebnis ihrer Verstörtheit aufgezeigt. Selbst die Rückblenden mit dem Vater, samt der noch präsenten Mutter sicher der Universalschlüssel zur Psychoanalyse, entstammen ja schließlich auch wieder nur der Erzählung der Tochter, die ihre bruchstückhaft und ungeordnet erscheinenden Geschichten immer wieder für den mutmaßlich belanglosen Satz “meine Mami lässt mich nicht rauchen” unterbricht - eine erzieherische Maßnahme des elterlichen Vormundes, in diesem Zusammenhang so lächerlich wie nur möglich. Und der außenstehende Mann schmiegt sich einfach in den Kreis des Wahnsinns ein, um im abartigen Finale als aktiver Mitgestalter einen Schlusspunkt mit Pauken und Trompeten zu setzen - hier hat die Dramaturgie den Film wieder eingeholt.
Schließlich ist es aber eben doch kein Selbstzweck, vielmehr eine funktionierende Demonstration der Kompetenz - den theoretischen Fähigkeiten - des Mediums Film im Gegensatz zu seiner bloßen Performanz, dem, was man normalerweise in Kategorien geordnet de facto zu Gesicht bekommt. So gesehen teilt der Film einige Eigenschaften mit der Musik und “Singapore Sling” ist nichts anderes als der Erschaffer von Noten, der es im Sinn hat, sie so zu vermischen, dass sie in keine Schublade passen. Dass man sich dazu bereits gespielter Noten bemächtigen muss, ist klar; dass “Singapore Sling” aber kein Film Noir im ursprünglichen Sinne ist, sollte ebenfalls schmerzlich klar geworden sein.