Review

Season 1

Wie kein anderer schafft es David E. Kelley das amerikanische Rechtssystem zu Unterhaltungszwecken zu nutzen. Schon mit „Ally McBeal“ und „Practice“ erschuf der kreative Kopf (ebenfalls verantwortlich für Serien wie „Boston Public“, „Chicago Hope“ oder „Picket Fences“) zwei großartige, voneinander allerdings völlig unterschiedliche Konzepte. In der Hit-Serie „Ally McBeal“ verband Kelley wunderbar leichtfüßig privates Drama und beruflichen Alltag, garniert mit feinsinnigem Humor und den berühmten surrealistischen Traum-Sequenzen der Hauptfigur. „Practice“ dagegen verzichtet auf Humor und Neurosen, zeigt eher ungeschminkt und hart die dreckige Seite der amerikanischen Justiz. Hierzulande fast unbeachtet ging die Serie unter, wurde nicht komplett synchronisiert und ausgestrahlt. Eine Schande, bedenkt man die hohe Qualität und die großartigen Schauspieler – in den USA selbst erzielte die Serie allerdings zufrieden stellende Einschaltquoten. Vor allem verdanken die Zuschauer „Practice“ aber etwas ganz anderes, dass Spin-Off „Boston Legal“. Die Hauptcharaktere traten erstmals in „Practice“ auf und brachten aber dermaßen viel eigenes Potenzial auf, so dass Kelley ihnen ein eigenes Konzept widmete – und damit wieder einen vollen internationalen Erfolg einfahren konnte.

2004 erschien die erste Staffel des Quoten-Hits und legt bereits eine extrem hohe Qualität vor. Störend wirkt auf den nicht vorinformierten Zuschauer höchstens die saloppe Einführung in die Welt der Bostoner Kanzlei Crane, Poole & Schmidt. Schon die erste Episode ist mitten im Geschehen, die Charaktere werden nicht in konventioneller Form eingeführt sondern charakterisieren sich selbst durch ihr Auftreten. Schnell ist klar wem die Präsenz vornehmlich gehört: Eindeutig William Shatner und James Spader. Shatner, bekannt für seine urigen Hauptrollen in „Star Trek“ und „T.J. Hooker“, bekam von David E. Kelley hier nichts weniger als die Rolle seines Lebens. Nie zuvor erstrahlte Shatner in einem derartigen Glanz, nie zuvor konnte er sein wunderbares Charisma einer so großartig stilisierten Figur schenken. Man muss einfach selbst sehen wie einzigartig der alte Captain Kirk Denny Crane spielt, den wohl besten Anwalt der Welt. Nicht weniger brillant wirkt Spader als Alan Shore, ein wirklich ausgezeichnet authentisch kreierter Charakter mit Ecken und Kanten. Trotz seiner blasierten Arroganz ist Alan dem Zuschauer sympathisch – und zwar nicht nur durch sein immer wieder aufblitzendes soziales Engagement.

„Boston Legal“ ist schnell geschnitten, erzählt die Fälle mit hohem Tempo und unterhält auf ganzer Linie. Die gewählten Themen sind größtenteils lichtfüßig, zeigen aber großen Facettenreichtum und vor unbequemen Plots fürchtet man sich auch nicht. Um politische Korrektheit ist man zu keinem Zeitpunkt bemüht, Zynismus und Sarkasmus dominieren die Serie, ohne aber ein schlechtes Menschenbild zu zeigen. Natürlich wird die Branche als einziges Haifischbecken geschildert doch keiner der mannigfaltigen Charaktere steht in einem völlig schlechten Licht. Jedem einzelnen werden die nötigen Ambivalenzen zugestanden um echt zu wirken und keiner der Beteiligten wird dem Zuschauer irgendwie angebiedert.

Ab der elften Episode betritt der drittstärkste Charakter der Serie die Szenerie: Teilhaberin Shirley Schmidt (Candice Bergen) kommt zurück aus New York nach Boston. Grund hierfür ist die Tatsache, dass Dennys exzentrisches Benehmen langsam Überhand zu nehmen droht. Schmidt ist eine harte Frau, im Gegensatz zum republikanischen Denny eine Liberale und im Gegensatz zum nihilistischen Alan ist Schmidt eine (wenn auch vernünftig denkende) Idealistin. Doch die gegensätzliche Konstellation wirkt nicht gekünstelt, Shirley bringt einen frischen Wind in die Serie und ihre zweideutigen Kabbeleien mit Denny sind immer für elektrisierende Momente gut. Die Chemie innerhalb des Ensembles funktioniert gut, was vor allem aufgrund einer Auffälligkeit ziemlich wunderlich ist: Wie für Kelley üblich geht man recht locker mit den eigenen Figuren um und so werden die Nebencharaktere noch nicht wirklich komplex gezeichnet. Da viele zum Anfang der zweiten Staffel aber gehen sollten, fällt dieser Punkt nicht weiter schwer ins Gewicht.

Prominente Gesichter in Cameo-Auftritten sind gut für eine Serie und im Big Budget Bereich eigentlich Standard. Erfreulich, dass man sich in „Boston Legal“ damit zurückhält und dennoch einige Star-Auftritte als Schmankerl auffährt: Zweimal tritt Freddy Prince Jr. auf als vermeintlicher Sohn von Denny und aufstrebender Jung-Anwalt. Die Egomanie und Zielstrebigkeit seines Vaters hat er prächtig drauf und als Donny erfährt, dass Denny nicht sein Vater ist, ist das einer der wenigen melancholischen privaten Momente in der ersten Staffel. Nur wenig geben die Protagonisten von sich preis, wir erfahren wie viel sie verdienen und wie sie denken, sehen aber nie wo und wie sie wohnen oder welches Auto sie fahren. Dennoch scheint der Zuschauer alle schon sehr bald gut zu kennen und man findet sich schnell zu Recht im Universum der Serie. Den Anfang muss man nicht kennen, die Folgen bauen nur zaghaft aufeinander auf und erzählen kaum längere Storylines.

Die Frauenfiguren verkommen zwar keineswegs zu Randfiguren, werden aber beliebig in ihrer Präsenz verschoben und fast alle Frauen verschwinden zum Anfang der zweiten Season. Unverständlich, denn sowohl die atemberaubende Rhona Mitra („Nip/Tuck“ Season 3) als auch die kühl agierende Monica Potter („Con Air“) füllen ihre Rollen mit Eloquenz und überzeugen auch schauspielerisch jederzeit. Anders sieht es aus beim Charakter Brad Chase, dargestellt von dem mir bisher völlig unbekannten Mark Valley. Scheint es anfangs als wäre Valley nur eine überflüssige Randfigur, schafft er es mit jeder Episode mehr Eigenständigkeit zu entwickeln – im Gegensatz zu den attraktiven Ladies bleibt Valley dann auch konsequenterweise an Bord. Dieser Schachzug soll sich in der zweiten Season nicht als Fehler heraus stellen…

Den besten Gastauftritt legt aber Altmeister Carl Reiner vor, der wohl keinem Cineasten mehr vorgestellt werden muss. In der vorletzten Episode „Auf Eis gelegt“ spielt er den alten Star-Anwalt Milton, der sich mit Hilfe der Kryonik einfrieren lassen und so konservieren lassen will. Seine Vorstellung ist was ganz Großes und spielt selbst Shatner kurzzeitig an die Wand. Mit nur einem Auftritt ist Reiner vertreten, schafft es aber sogleich seinem Charakter Herz, Seele und Authentizität zu verleihen. Im emotionalen Schluss-Plädoyer spricht Milton dann für sich selbst und eröffnet eine tragische Wahrheit über sich.

Das Staffelfinale wartet schließlich mit einer ernsten Episode auf, in der Kelley einen grimmigen Kommentar zum texanischen Recht und zur Todesstrafe im Allgemeinen abgibt. Um einen eventuell Unschuldigen vor der Giftspritze zu retten begleitet Alan eine Kollegin nach Texas, stößt dort aber nur auf taube Ohren, auf ein zutiefst menschenverachtendes Rechtssystem. Eindeutig, was die Macher von der texanischen Hinrichtungs-Politik halten, denn die Schlusssequenz sagt mehr als tausend Worte: Der Gnadengesuch wird abgelehnt, Alan rät dem Verurteilten dazu, während der Hinrichtung seine Angst und seine Verzweiflung zu zeigen. Seit „Dead Man Walking“ gab es keinen so emotional eindringlichen Appell gegen die Todesstrafe, nicht mal der christlich-verklärende „The Green Mile“ kann mit der hier geschilderten Authentizität (und der daraus resultierenden Härte) konkurrieren.

Fazit: „Boston Legal“, das neueste Baby Kelleys, überzeugt auf der ganzen Linie und ab der ersten Folge. Unterhaltsam und dennoch tiefgehend schafft die Serie einen Genre Spagat, regt zum nachdenken über mannigfaltige Themen an und wartet mit ungeheuer clever konstruierten Fällen. Wer puren Realismus sehen will sollte sich lieber an „Practice“ halten, doch „Boston Legal“ übertrifft den Vorgänger deutlich. Mehr davon!

09 / 10

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