Die Kamera gleitet langsam über eine etwas triste Siedlung am Rand von Death Valley, begleitet von romantischen Gitarrenklängen. In dieser Szenerie tauchen zwei Bulldozer auf, die der über eine unendlich in die Ferne weisende Straße blickenden Kamera das Sichtfeld versperren, indem sie ihre riesigen Schaufeln auf den in der Abenddämmerung auskühlenden Asphalt nieder senken. Auch wenn das homöopathisch eingesetzte Western-Flair noch nachwirkt - der Weg in die Freiheit ist für uns Zuschauer in diesem Moment versperrt. Noch wissen wir nicht, dass dieser wortlose Auftakt von Richard C. Sarafians „Vanishing Point“ auch Teil seiner Schlusssequenz sein wird. Das ist insofern interessant, als wir diesen Moment zu Beginn aus der Perspektive von Kowalsky, dem Protagonisten des Films, betrachten (was wir natürlich ebenfalls noch nicht wissen) – bei seiner Wiederholung, im Finale des Films, wird die Perspektive der meisten Zuschauer vermutlich eine andere sein. Ein pessimistisch-nihilistischer Action-Reißer ist dieser Film allerdings, entgegen seiner etwas kuriosen Reputation, keineswegs.
Vielmehr als ein überdurchschnittlicher Film eines bestimmten Genres – „Roadmovie“ trifft es eher – ist er eine populistische Reflexion über den eher flauen Nachgeschmack der 68ziger Bewegung, ihre Auslöser und ihre „Mechanik“ – und darüber, wie schnell das Getriebe dieser Mechanik zum Stillstand gekommen ist. Kowalsky (Barry Newman), unser wortkarger Antiheld, war selbst Teil der feindlichen Gegenbewegung, kämpfte für die Vereinigten Staaten im Vietnam-Krieg. Folglich ist ihm die romantische, gutgläubige Verklärung hinter „Love and Peace“ und „Make Love, not war“ fremd, sehr fremd. Der harmoniesüchtigen Hysterie der Hippies begegnete er vermutlich schon immer perplex, was sich insbesondere im Mittelteil des angenehm gedrosselt erzählten Films deutlich herauskristallisiert. Er begegnet dann einer religiösen Hippie-Gruppe, die in ihrer hysterischen, weltfremden Euphorie diesen Zweifeln unzweideutig entspricht. „Vanishing Point“ ist Erzählen in Etappen: Teils endlose Fahrten, die nur sehr selten als Vorwand für formal brillante und kurze Action-Szenen dienen, dem Zuschauer einen gewissen Freiraum rund um die Figur Kowalskis gewähren und dabei auch seine jeweilige Stimmung einfangen, die sich seiner lakonischen Mimik oft nicht entnehmen lässt – die Montage beschleunigt sich im letzten Drittel auffallend. Böse Zungen unterstellen Hauptdarsteller Barry Newman mangelnde schauspielerische Fähigkeiten, was er in meinen Augen gerade im Finale widerlegt.
Zwischen diesen langen Fahrten Tankstellen. Natürlich. Tankstellen, die Kowalski neben Benzin auch die obligatorische Möglichkeit geben, neue Zuversicht zu tanken oder ihn in pragmatisch dienlicher Weise ernüchtern. Alleine auf der Straße in einem weißen Challenger, stellen die ihn verfolgenden Polizisten nicht nur ein gefährliches, sondern auch störendes Hindernis dar, durch das er selbst hier, in der inmitten vorbeiziehender Landschaften ausgetragenen Meditation mit sich selbst durch die Polizisten an seinen Fersen nicht nur immer wieder an eine Gesellschaft erinnert wird, mit der er nichts zu tun haben will, sondern auch an seine wenig erfreuliche Vergangenheit als Rennfahrer und Polizist.
Mit dem Charakter des Super Soul, einem stets prächtig aufgelegten farbigen und blinden Radio-Moderator, der mit seinen Gerätschaften gerne einmal in den Polizeifunks schnuppert, wird Kowalski ein Schutzengel und eine Art optimistisches zweites Ich zur Seite gestellt, das ihn bald über den Äther des Radios zu „dem letzten amerikanischen Helden“ hochstilisiert und so die gesamte Nation an seiner motorisierten Passion teilhaben lässt. Das beide Figuren fast sinnbildliche Schöpfungen und auf gegenseitige Ergänzung ausgelegt sind, wird nicht zuletzt offensichtlich durch ihre Gegensätzlichkeit, sondern auch die Verbindung, die zwischen beiden immer wieder und nicht nur über das Radio hergestellt wird. Zum ersten Mal tritt Super Soul im Film in Erscheinung, als er sich mit seinem Stock auf dem staubigen Platz eines kleinen Städtchens vorantastet. Eine ältere Dame wirft ihm einen missgünstigen Blick durch die Jalousie eines Cafés zu. Diese Sequenz bringt das unbewusste Dilemma seiner Figur pointiert zum Ausdruck: Super Soul richtet sich an ein begeisterungsfähiges, junges und modernes Publikum als er beginnt, Kowalski in seine Show mit einzubeziehen. Und er ist im ganzen Film die einzige tragende Figur, die sich ein vitales Innenleben und Illusionen bewahrt hat – das woran er glaubt und was Kowalski für sich längst als Unsinn aufgefasst hat, ist der Kern der Geschichte: Der Erfolg einer Revolte, den Umkehreffekt einer neuen Ära. Letztlich wird Super Soul später seiner Illusion beraubt werden, Kowalskys Resignation bestätigt.
Die Verbindung zwischen Beiden und die symbolischen Zahnräder, die dadurch ineinander greifen, wird kurz darauf hergestellt, als Super Soul seine Show beginnt und Sarafian zu dem fahrenden Kowalski und seinem regungslosen Gesicht überblendet. Wie auch im übrigen Film fällt hier der äußerst pointierte Einsatz der Songs und ihrer Texte auf:
„Hooray for the men of vision, who are never satisfied (...)”
Mit der Zeile “May they never disappear” wird wieder der tanzende Soul gezeigt. Der Wunschtraum von einer gesellschaftlichen Subversion, die nie stattgefunden hat, wird über die gesamte Laufzeit hinweg im Hintergrund, neben der ebenso bescheidenen wie eindrucksvollen Stilistik und dem Verlauf der Erzählung geduldig, unaufgeregt und ohne jede politische oder ideologische Wertung dekonstruiert. Diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit einem überzüchteten Phänomen zeichnet auch zahlreiche andere bemerkenswerte Filme zum Thema „Post 68“ wie Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“, Paul Verhoevens „Türkische Früchte“ und natürlich das „New Hollywood“ aus. Das hat nichts mit dem Scheitern des „amerikanischen Traums“ zu tun, vielmehr – und unmittelbarer – mit dem Bestreben, sich in keine gedankliche Abhängigkeit zu begeben. Kowalski ist auf dem Weg nach San Francisco, der „freigeistigen“ Hippie-Metropole - was im Amerika von 1971 einer Reise ins Paradies gleichzukommen scheint – oder in ein unverantwortliches Chaos: Eine Gruppe junger Männer dringt später in die Radiostation ein und verprügelt brutal Soul und seinen Assistenten. Beide haben die konservativen amerikanischen Werte durch ihre Unterstützung jenes einsamen, Verwirrung stiftenden Fahrers mit Füßen getreten und das muss sanktioniert werden. Die Folgen dieses Überfalls sind frappierend: Seiner Illusion beraubt, verspürt Soul mehr denn je das Verlangen, sich mit seinem fahrenden Schutzbefohlenen im Geiste zu verbrüdern.
Was „Vanishing Point“ zum Kultfilm und vielleicht sogar zum „Camp“ avancieren hat lassen, sind seine zeitlosen äußeren Merkmale, seine formale Gestaltung, die nur selten, dann aber wohlüberlegt mit verschiedenen, ungewöhnlichen Einstellungen und Effekten arbeitet – so wird unter anderem ein dem berühmten „Vertigo“-Effekt verwandter Kameratrick eingesetzt -, seine liebevolle Inszenierung der fahrenden Blechkisten (die zwei Jahre später noch bei weitem übertroffen wurde von H. B. Halickis „Autoerotischem“ B-Klassiker „Gone in 60 seconds“), seine melancholische, ohne jeden Manierismus und pathetische Verklärung auskommende On-the-way-home-Stimmung, seine wenigen, aber brillanten, minimalistischen Actionszenen, sein treibender Soundtrack und das im wortwörtlichsten Sinne epochale, erstaunliche Ende. Quentin Tarantino hat viele Fans und sie mit seinem neuesten Film „Death Proof“ endgültig mit der Nase auf diesen Film, einen seiner persönlichen Lieblinge, gestoßen. Und tatsächlich – man entdeckt in dem an Reminiszenzen an das Genre-Kino vergangener Tage überreichen Zitate-Kino von Hollywoods ungekröntem Wunderkind unendlich viel wieder aus „Vanishing Point“ – formal wie inhaltlich, vielleicht auch in der gesamten Attitüde. Nur sein Minimum an Dialog ist eine zu preisende Tugend dieses Films, die sein berühmtester Verehrer nicht für sich übernommen hat. Eigentlich schade. Doch dass man ausgerechnet die redseligste Figur im Film – Soul – in den Rollen Samuel L. Jacksons in „Pulp Fiction“ und „Jackie Brown“ wieder zuerkennen meint, ist dann natürlich auch wieder irgendwo konsequent. Einstellungen, Begegnungen, Stimmungen, Schnitte – wer Tarantino gut kennt, wird mit Leichtigkeit bemerken, wie sehr er „Vanishing Point“ liebt.
Ins Kreuzfeuer mancher Kritiker geriet der Film wegen einer kurzen Sequenz, in der ein homosexuelles Pärchen nach einem Autounfall von Kowalski aufgelesen wird und spontan beschließt, ihn zu überfallen – woraufhin er die beiden natürlich in hohem Bogen auf die Straße zurückbefördert. Diese Szene soll angeblich homophober Natur sein. Dabei ist sie – wie so viele ethische Gratwanderungen in diesem Film – lediglich leicht überzeichnet.
„Warum lachen Sie?“ fragt einer der beiden Kowalsky misstrauisch. „Ich lache doch gar nicht!“ – „Aber sie sind mürrisch. Es ist, weil sie uns für schwul halten, nicht wahr? (…) Hände hoch! Das ist ein Überfall!“
Der Auftritt dieses Pärchens fügt sich makellos in die Anlage des Films ein, denn: Zeitgleich mit der 68ziger-Bewegung wurde auch eine erste schwule Bewegung, insbesondere in den USA, initiiert. Beide Bewegungen gingen trotz ihres edlen Ansinnens zu großen Teilen nach hinten los – die Konsequenzen sind bis heute spürbar. Die Drohgebärden des jungen Mannes an Kowalsky sind schließlich folgerichtig nur eine paranoide, trotzige Überreaktion – wer so sehr nach Raubein aussieht wie dieser Fahrer, kann eigentlich nur ein homophober Macho sein. Weder bekundet Kowalsky – aus dessen Blickwinkeln wir diese Handlungen immer noch verfolgen – in dieser Sequenz irgendeine Ablehnung oder Belustigung, noch verhält er sich unnatürlich, als er die beiden nach dieser bewaffneten Bedrohung aus dem Auto wirft. Dass sie homosexuell sind, hat er sicherlich schon zuvor registriert, schoben sie doch ein Auto mit einem „Just Married“-Schild. Er hätte die Begegnung mit den beiden Paradiesvögeln also bequem vermeiden können. Auch das die unter Umständen negative Folge einer eruptiven, übereiligen Befreiung aus der gesellschaftlichen Repression: Der Glauben, die eigene Orientierung – sei sie nun politisch oder sexuell – in der Öffentlichkeit aggressiv zur Schau zu stellen zu müssen.
Ganz anders hingegen das Biker-Pärchen, bei dem Kowalski kurz darauf einen Zwischenstopp einlegt: Beide sind auch halbe Hippies, stehen auch hinter den entsprechenden Idealen. Ihre Bodenständig- und innere wie äußere Ehrlichkeit ist es, was sie von den anderen unterscheidet und ihnen Kowalskys Respekt einbringt. Sie behandeln ihn nicht erwartungsgemäß wie ein Wunder von einem fremden Stern – ein unliebsamer Nebeneffekt seines polizeilichen Anhangs und Super Souls Radiokampagne – sondern wie einen sympathischen Gast. Und hier erfüllt sich auch eine kleine, aber wichtige „Prophezeiung“ am Rande: Als Polizist verhinderte Kowalski sechs Jahre zuvor den sexuellen Missbrauch eines wegen Drogenbesitzes verhafteten Mädchens durch einen Kollegen. Diesem Mädchen begegnet er nun hier wieder, nackt, erwachsen und tatsächlich quasi frei auf einem Motorrad um ihre Hütte in der Wüste fahrend. In gewisser Hinsicht hat sie etwas erreicht, das für Kowalski in unendlicher Ferne liegt. Als sie ihm eine sexuelle Avance macht, lehnt er dankend und lächelnd ab.
Sarafian reichen die Kamera, die Gesichter und Handlungen der Menschen aus, um das Wesentliche des Films auszuformulieren, jede zusätzliche Dialogzeile hätte die rätselhaft intime, irgendwo aber auch permanent spürbare Distanz zwischen Kowalski und dem Zuschauer verringert. „Optimistische Melancholie“ – wer sich darunter etwas Interessantes vorstellen kann, sollte „Vanishing Point“ sehen. Wer polemisch aus genannten Gründen über ihn hinwegsegeln möchte, sollte sich das Ende – das im übrigen auch bissig Stellung nimmt zu der sensationalistischen, marktschreierischen Mentalität Amerikas und seinen erdrückenden populären Zwängen – einmal genauer besehen und mit diesem Gedanken den Film, der generell von mehrmaligem Ansehen profitiert, nochmals aufrollen. Ein Meilenstein seines Genres ist „Vanishing Point“ sicherlich nicht, dafür aber eine der interessantesten Auseinandersetzungen mit den Erfolgen und mehr noch den Misserfolgen der 68ziger-Bewegung sowie dem absurden Konflikt, der sich beinahe automatisch aufwirft, wenn man sich politisch und ideologisch zwischen zwei klar definierte Fronten stellt. Kowalskys finale Entscheidung ist ein spontaner Versuch mit den Erwartungen, die all die zahllosen Menschen, die ihn nur aus dem Radio kennen, an ihn stellen, zu brechen. Er bewahrt sich in einem weniger heroischen als vielmehr instinktiven Akt seine Souveränität, seine Unabhängigkeit, seine Freiheit. Es soll daher noch einmal festgehalten werden, dass „Vanishing Point“ abseits seiner gesellschaftlichen Relevanz in erster Linie ein Film über seinen Protagonisten sowie dessen Reise und Entwicklung ist. Kein gesellschaftskritisches Pamphlet, sondern eine gesellschaftsbezogene Geschichte.
FAZIT: All das – und noch viel mehr – in einem packenden Action-Road-Movie, das seinen Kultstatus zu Recht besitzt. Quentin Tarantino hat einen guten Filmgeschmack.