„Betty Blue“ hat eine Unmenge Etiketten bekommen, aber gleichzeitig ist der Film doch irgendwie in Vergessenheit geraten ,ähnlich wie Beneix’ anderes Meisterwerk „Diva“.
Beatrice Dalle, die die Betty spielte, nein, verkörperte, hat nie wieder eine adäquate Rolle erhalten. Allem, womit sie danach aufgefallen ist, klebte immer das Etikett Erotik an. Aber nicht in der sauberen Form, der der „erotischen Ausstrahlung“, sondern in der halbseidenen, die knapp vor dem Porno kommt.
Dabei hat „Betty Blue“ mit nichts weniger zu tun.
Man fragt sich, womit „Betty Blue“ überhaupt etwas zu tun hat, denn es ist einfach die Geschichte eines Paares, die kurz nach dem Kennen- und Liebenlernen beginnt. Vordergründig ist es eine Literaturverfilmung nach Philippe Dijan’s erstem Roman, aber das Buch ist gröber, stärker aus der männlichen Sicht geschrieben.
Die Nacktheit, die in diesem Film ausgiebig vorkommt, ist von solcher Natürlichkeit und Angemessenheit, daß jeder der sich in die Story einfühlen will und kann, diese kaum bemerkt, weil sie einfach dazu gehört.
Schon solche gut gemeinten und auch ambivalenten Titulierungen wie „Erotisches Drama“ auf der aktuellen DVD führen in die Irre. Die hier dargestellte Sexualität ist von völliger Normalität. Sicherlich häufig und intensiv, aber ohne jegliche Spielchen, Verstrickungen oder Experimente – es gibt auch keine erotischen Verirrungen wie Seitensprünge oder ähnliches.
Ungewöhnlich ist nur die offene und natürliche Darstellung im Film und damit liegt jede extreme Betrachtung der Sexualität ausschließlich in der Beurteilung des jeweiligen Betrachters.
Die geniale Qualität des Films liegt – man glaubt es kaum - in seiner Realität.
Zorg (Jean-Hugues Anglade) arbeitet in einer Feriensiedlung am Strand. Sicherlich kein anspruchsvoller und gut bezahlter Job, aber es macht ihm Spaß, denn irgendwie ist das wie jeder Tag Ferien....und momentan geht es ihm besonders gut, denn er hat Betty kennengelernt, in die er sich sofort verliebt hat.
Als Betty nach einer Woche Sex dann bei ihm einzieht, beginnen sofort die Veränderungen, denn Zorg’s Chef passt es nicht, daß sein Angestellter ständig abgelenkt wird. Nur wenig später kommt es zum Krach und die Beiden ziehen zu Betty’s Freundin nach Paris.
Auch dort hat der Alltag einen ruhigen Rhythmus bis Betty eines Tages Zorg’s handgeschriebene Aufzeichnungen seines Romans findet und der Meinung ist, dieser müßte unbedingt veröffentlicht werden...
Sämtliche Personen, die im Film auftauchen, sind nachvollziehbar und in keinster Weise extrem oder überzeichnet :
- der Chef von Zorg ist halt ein üblicher Ausbeuter, der will, daß alles nach seiner Pfeife tanzt. Selbst nachdem ihm Betty Farbe über sein Auto geschüttet hat, bleibt es bei einer normalen Auseinandersetzung mit dem üblichen Geschrei
- der neue Freund von Betty’s Freundin in Paris hat dort ein italienisches Restaurant und ist trotz leicht angeberischer Macho-Attitüde sehr symphatisch. Selbst nachdem Betty einen nervenden Gast in seinem Restaurant körperlich angegriffen hat, ändert das nichts an seiner Freundschaft (auch wenn er sie insgeheim für etwas verrückt hält)
- dieser nervende Gast im Restaurant ist eben auch typisch, ein Mensch mit dem Gastronomen
sicherlich täglich zu tun haben
- auch der Lektor, der Zorg’s Manuskript mit harrschen Worten ablehnt und den Betty deshalb angreift, ist ein normal arroganter Typ, wie er sicherlich zu Tausenden in Paris vorkommt
- Ärzte, Polizisten oder irgendwelche Beamte machen halt ihren Job, mit der typischen Einstellung,
über die sich jeder schon mal geärgert hat
Und Betty ?-Ist sie die einzie unnormale, kranke Person ?
Nach unseren üblichen Kriterien sicherlich, denn wir alle haben uns genau an diese oben geschilderten „Normalitäten“ gewöhnt, wir haben damit leben gelernt.
Und als der Chef am Beginn des Films von Zorg fast eine Sysiphos-Arbeit als Gegenleistung für Betty’s Anwesenheit verlangt, ist dieser bereit sich ohne Murren darauf einzulassen. Nur Betty eben nicht....sie flippt aus und zündet eines der Holzhäuser an.
Betty fehlt dieses Gen, welches sonst hilft mit den Realitäten zurecht zu kommen und sie leicht fatalistisch zu ertragen. Und besonders leidet sie dann darunter, wenn sie das Gefühl hat, es richtet sich gegen Zorg.
Zorg’s Stärke liegt darin, daß er spürt, daß sie – trotz äußerlich scheinbar verrückter Reaktionen – im Recht ist und das weckt auch in ihm ein Verhalten, daß sich gegen die allgemeine Anpassung wehrt und er beginnt sich zu verändern....
Der Film bleibt dabei immer realistisch und macht deutlich, daß für einen Menschen wie Betty in unserer heutigen Zivilisation kein Platz ist....trotz aller Bemühungen von Zorg.
Wie die vielen Schubladen, in die der Film eingeordnet wurde, beweisen, gibt es eine Menge Möglichkeiten, den Film im Grunde genommen abzutun, selbst wenn das unter dem Deckmäntelchen der wohlwollenden Kritik geschieht.
Die positivste und doch gleichzeitig verlogenste Variante ist die, den Film als Krankheitsbild eines nervlich kranken Menschen zu betrachten und ihm dabei auch noch den Stempel der hervorragenden Darstellung aufzudrücken.
Ebenso falsch ist, den Film als Tour de Force eines ungewöhnlichen Paares anzusehen. Ungewöhnlich ist an Betty und Zorg nur, daß sie etwas unkonventionell leben, aber ihre Zielsetzung ist ganz einfach : eine Beziehung, ein eigenes Zuhause und ein Kind...
Diese Urteile lenken nur von der eigentlichen Frage dieses aufwühlenden und emotionalen Films ab, die sich Jeder stellen sollte und deren Antworten meist unbequem sind :
- wie ordnen wir unsere eigenen Beziehungen ein ? –
Und ist das wirklich die erstrebenswerte Normalität ?(10/10).