Rülps.
So sah mein erster Versuch einer Kritik zu Marco Ferreris Film aus, aber die Lautmalerei erscheint auf den zweiten Blick doch ein wenig knapp. Auf den ersten Blick drückt sie zwar gut das befreiende Gefühl aus, das einen überkommt, wenn man diesen zweistündigen Rausch der Sinne erfolgreich hinter sich gebracht hat, und das Wort selbst passt auch gut zum Sujet, aber: Der Anspruch, ach, der Anspruch!
Der Anspruch, etwas Substanzielleres abzuliefern, ist natürlich da, besonders wenn es sich beim zu besprechenden Film um einen Klassiker handelt, aber das Werk selbst ist so vordergründig schlicht in seiner Ausführung, die Dialoge so direkt, das Schauspiel so auf den Punkt. Da schien es einfach eine gute Idee zu sein, auch die Kritik griffig zu bündeln, um auf Augenhöhe zu bleiben, denn wenn etwas „Das Große Fressen“ durchzieht, dann ein Augenzwinkern.
Ein Augenzwinkern, gerichtet auf die menschliche Natur. Auf Eitelkeit, Sitten, Erziehung, Gesellschaft. Darin sind unsere vier Protagonisten bewandert, ihre Leben scheinen erfüllt, weswegen ihr Plan, das eigene Leben durch Überfressung in Philippes Villa zu beenden, zunächst verwundert, und dessen Motivation auch im weiteren Verlauf des Films nur erahnt werden kann.
In nüchternen Bildern fängt Ferreri das Treiben der Vier ein (später stößt mit Andréa der fünfte Charakter hinzu), auch Musik kommt nur äußerst sparsam zum Einsatz. Und diese Entscheidung erweist sich als richtig, denn die Wirkung des Films ergibt sich aus dem reizvollen Wechselspiel zwischen dem leidenschaftlichem Treiben der Gemeinschaft und dem leidenschaftslosen Blick der Kamera, der die Situation fast schon seziert.
Hier liegt auch der groteske Humor begründet: Wenn bereits Verstorbene in Sichtweite zum Esstisch drapiert werden, um dem Gelage weiterhin beizuwohnen, dies von den Lebenden aber nicht im Geringsten kommentiert wird, dann vermittelt eine einzelne Einstellung bereits mehr abgründigen Witz als es ein Dialog je könnte. Kino halt.
In dessen Verlauf es zu manch denkwürdigem Auftritt kommt. Beispielsweise den vom sonst so reserviert agierenden Michel, der eine Hure mit Tortenstücken bewirft und dabei aufs Übelste beschimpft.
Beispielsweise den vom sexsüchtigen Marcello, der einen alten Bugatti zum Laufen bringt und damit (mit gehöriger sexueller Symbolik verbunden) im Garten vor- und zurückfährt.
Und beispielsweise den vom verbissenen Ugo, der zwar zu einer fantastischen Marlon-Brando-Imitation imstande ist, dieses popkulturelle Zitat aber ohne Humor, fast schon verachtend darbietet und erst angesichts einer Fäkalexplosion befreit lachen kann. Alle Beteiligten beginnen mit andauerndem Aufenthalt im Anwesen ihr Verhalten zu verändern.
Denn während der Magen sich füllt, leert sich der Geist. Gleichzeitigkeit von Verstopfung und Entschlackung. Essen als Meditation, je mehr unsere Protagonisten in sich hineinstopfen, desto transparenter wird ihr Verhalten, desto augenscheinlicher ihre Begierden, deutlicher ihre Neurosen. Der Ton wird rauer, die Ausdrucksweise vulgärer, das Verhalten unzivilisierter. Das Überangebot von Nahrung und Sex führt zum Fall ihrer bildungsbürgerlichen Fassade, das Verdrängte steigt bei jedem Einzelnen an die Oberfläche. Ihre Passionen werden ihr Untergang, ihr Untergang zur Passion.
Marcello, zuerst als selbstbeherrschter Playboy auftretend, steigert sich sowohl in seinen Sexualtrieb als auch in seinen Technikfetisch hinein, und verliert schlussendlich Manneskraft und Lebensmut. Es zeigt sich, dass der gemeinsame Plan ihm immer nur ein Spiel zu sein schien, Entsetzen und Verwunderung kennzeichnen sein Ende.
Michel, zunächst als der Zurückhaltendste und Gesittetste der Gruppe in Erscheinung tretend, wird zunehmend das Opfer seiner verdrängten Bedürfnisse. Seine athletische Physiognomie wird bald von einem grotesken Blähbauch verunstaltet, mühsam erpresste Furze in Gegenwart anderer beschämen ihn bis ins Mark und führen letztendlich auch seinen Untergang herbei, als alles Aufgestaute sich psychisch und physisch Bahn bricht.
Ugo bleibt seiner Profession als Meisterkoch bis zuletzt treu, zaubert megalomane Pasteten und Süßspeisen, selbst als allen anderen der Appetit längst vergangen ist. Seine Arbeit ist seine Leidenschaft, seine finale Kreation ein orgiastisches Symbol, in das all seine vegetativen und kreativen Reserven fließen. Erschöpft, unfähig zu weiteren Handlungen, wird er von Philippe und Andréa mit Essen und Sex zu Tode befriedigt.
Philippe schließlich steigert sich in seine zuvor nur angedeuteten kindlichen Verhaltensmuster hinein, möchte Andréa vom Fleck weg heiraten, blendet ihren sexuellen Umgang mit seinen Freunden einfach aus und ergeht sich immer wieder in beleidigtem Schmollen. Seine Fixierung auf Andréa als Mutterfigur wird von ihr in einem, an weibliche Brüste erinnernden Dessert umgesetzt. Der Busen der Mutter, Symbol des Lebens, wird zur Henkersmahlzeit.
Und Andréa, die Grundschullehrerin, damit auch noch zum Todesengel, nachdem sie zuvor alle Rollen von der Heiligen bis zur Hure besetzt hat. Gemeinsam mit ihr verlassen wir den Ort und den ihn dokumentierenden Film, der zum fahlen Schauplatz des Todes wurde, in seiner letzten Einstellung aber ein Rudel Hunde zeigt, das sich über im Garten verteilte Fleischreste hermacht. Das Leben geht weiter. Der hochdramatische Akt, den die vier Individuen inszeniert haben, befindet sich schon in Korrosion.
Mein Fazit? Schwierig, einem derart freien Werk jetzt wirklich ein Wortkorsett anzuzwängen. In seiner Freiheit liegt auch seine mögliche Schwäche, er besetzt keinen konkreten Standpunkt. Sittengemälde? Groteske? Beides? Das kann sich nur jeder selbst beantworten, denn „Das Große Fressen“ breitet sich schonungslos offen vor seinem Publikum aus. Filmdelikatesse oder peinsames Körperflüssigkeitenkino, die Wahl liegt beim Zuschauer. Kann ein Fazit also überhaupt adäquat ausfallen, was wird diesem orgiastischen Fest menschlicher Triebe gerecht? Wie kommentiert man diesen Kommentar zur menschlichen Natur?
Ach, drauf geschissen:
Rülps.