Was man auch immer über den Menschen Walt Disney denken mag, egal wie sehr man sich über sein reaktionäres, rechtsgerichtet konservatives Weltbild mokiert, so muss man ihn eigentlich zwangsläufig bewundern wenn man sich für Filme interessiert. Immer an vorderster Front reizte er in jeder Dekade seiner Karriere die technischen Möglichkeiten vollends aus, setzte Maßstäbe und perfektionierte den Zeichentrickfilm als Kunstform sowie als kommerziell einträgliche Geldmaschine. Grundsätzlich war Walt Disney ein Visionär der sich hingebungsvoll seinen Träumen aufgeopfert hat, kaum Ruhe kannte und mit den Gedanken immer schon beim übernächsten Schritt war. Wie kein zweiter Film zeugt „Fantasia“ von dieser obsessiven Arbeitsauffassung und stellt zugleich Disneys wohl größten künstlerischen Geniestreich als auch dessen kommerziell bittersten Flop dar. Nie wieder sollte sich der Firmenchef, der jeden Arbeitsschritt überwachte und täglich als letzter die Arbeit beendete, sich von der Enttäuschung über den finanziellen Misserfolg erholen – innerhalb der Produktionszeit schwebte dem Musikliebhaber schon ein jährlicher Konzertkinofilm vor.
„Schneewittchen“ und „Pinocchio“ wurden mit Lob überschüttet und zementierten eindrucksvoll die Alleinherrschaft des Disney-Konzerns in Bezug auf hochqualitative Zeichentrickfilme. Studios wie Warner und MGM veröffentlichten zwar ebenfalls geniale Kurzfilme, in Bezug auf abendfüllende Unterhaltung war Disney den Konkurrenten aber um Jahre voraus. Das nächste Projekt sollte einen Herzenswunsch der Brüder Disney erfüllen, einen Konzertfilm ohne äußere Rahmenhandlung, der sich vollständig dem narrativen Kino entzieht und selbst auf gesprochene Worte verzichtet. Nur selten hören wir einen Kommentar und das nur zur Einleitung der jeweiligen Sequenz. Dieses Wagnis wurde zusätzlich erschwert durch die enorme Laufzeit von beinahe zwei Stunden. So unterschiedlich wie die Musikauswahl gerieten dementsprechend die Bildkompositionen – „Fantasia“ unterhält den Zuschauer nicht wie ein Film sondern wie ein Besuch in der Oper.
Zu vergleichen sind die einzelnen Segmente prinzipiell mit der berühmten Reihe „Silly Symphonies“, die in den Dreißiger Jahren den Oscar jährlich gewann und unzählige Klassiker hervorbrachte. Waren schon die Kurzfilme auf höchstem technischem Niveau, so definierten die hier vorgestellten Werke einen neuen, bis heute gültigen Superlativ. Der Film beginnt mit Bildern des Orchesters, welches sich vor blauem Hintergrund versammelt, Gesichter sind nur vage zu erkennen. Ein kleiner Tribut an die Künstler, die für die Musik verantwortlich waren, deren lyrische Schönheit die Zeichner imposant visualisieren.
Schon die fasziniert mit surrealistischen Bildern, deren exzellente Farbdramaturgie einen kleinen Vorgeschmack bietet, unterlegt mit einer klassischen Toccata, hin und wieder unterbrochen von Shots auf die Musiker, zum Schluss nur noch auf den Dirigenten. “Fantasia“ bietet in seiner Urform keine Credits und entzieht sich damit konsequent bis zum Schluss den Normen des Spielfilms, erhebt sich selbst zu einer ganz neuen Kunstform. Jede der einzelnen Sequenzen brilliert für sich mit einer eigenständigen Ästhetik, keine Sekunde Füllmaterial bläht den Bilderfluss unnötig auf. An bekannte Handlungsmuster klammert sich der Film auch nicht in Bezug auf die Musik, so ist in der ersten Episode, einer Visualisierung von Tschaikowskys legendärer Nussknacker-Suite, keine Handlung vorhanden. Die majestätischen Bilder zeigen den Nussknacker nicht und widmen sich statt seiner Geschichte dem Tanz der Feen, herabfallenden Blättern oder einem niedlichen Fisch in einer tollen Unterwasserszene.
Anschließend folgt die Episode „Der Zauberlehrling“, die den kreativen Nukleus des Projektes bildet und dessen Produktion eine weitere Ambition Walt Disneys beinhaltet: Die Rückkehr von Micky Maus, bis zuletzt Walts eindeutiger Favorit. Der ehemalige Sidekick Donald Duck hatte Micky den Rang abgelaufen und dieser führte nun ein Dasein als Randfigur, tauchte mittlerweile sogar in weniger Cartoons auf als Goofy. Um diesem langsam eintretenden Schattendasein ein Ende zu bereiten sollte eine Episode Micky als Hauptdarsteller besetzen, während sonst kein bekannter Charakter im gesamten Film auftritt. Die in den Folgejahren oft auch einzeln vermarktete und aufgeführte Episode sprengt mit atemberaubenden Bildarrangements alle Grenzen, lotet alle visuellen Möglichkeiten des Genres aus und kleidet die dramatische Komposition von Paul Dukas, übrigens eine Interpretation der gleichnamigen Goethe-Ballade, in geniale Animation. Für die Vertonung errang Dukas Weltruhm als Komponist und der Kurzfilm wird seiner musikalischen Vorlage definitiv gerecht.
Weiter geht es mit derselben Qualität, die Klänge Strawinskys „Sacre du Printemps“ erzählen uns im Film von der Urzeit, zeigt düster und trostlos den ewigen Kampf der Evolution am Beispiel des Aussterbens der Dinosaurier. Die brutal ausgefochtenen Kämpfe zwischen den Giganten und ihr jämmerliches Ende (in einer aggressiv rot präsentierten Wüstenlandschaft verdursten sie grausam) dienten unter anderem zur Vorlage für Todd McFarlanes berühmtes Musikvideo zu Pearl Jams „Do The Evolution“.
Nach Strawinsky geht es dann weiter mit dem guten alten Ludwig van. Wie auch in den anderen Segmenten finden wir hier kaum eine zu verfolgende Geschichte, die harmonische 6. Sinfonie erklingt zu warmherzig-märchenhaften Unbeschwertheiten. In einer Fantasiewelt tollen die verschiedensten Wesen in Einklang miteinander und mit der Natur herum, bis dunkle Regenwolken aufziehen. Nach dem Unwetter mit Blitzen und Regenfluten endet die Sequenz friedvoll, während sich Engel, Feen und die anderen Wesen zur unbeschwerten Ruhe legen.
Ponchiellis hinlänglich bekanntes „Tanz der Stunden“ wird unvergesslich von Sträußen, Elefanten, Alligatoren und Nilpferden getanzt, vorzüglich choreographiert und bis in die letzte motorische Feinheit animiert. Das Tempo nimmt im Verlauf der Aufführung immer mehr zu und das Konkurrenzgehabe der einzelnen Gruppen führt zu irrwitzig überzeichneter Hektik, die etwas aus dem Rahmen fällt, aufgrund ihrer Kürze aber durchaus ins Gesamtkonzept passt und weitere Abwechslung bietet.
Mussorgsky und Schubert bilden den Abschluss mit zwei zusammengehörigen Episoden – trotz der versöhnlichen Schlussszene bleiben aber die apokalyptischen Bilderfluten der dämonischen ersten Hälfte in Erinnerung, die sogar mit einem Höllenfeuer a la Dante aufwartet. Wahrlich schwere Kost für die Jüngsten, für die der Film primär aber auch nicht unbedingt gemacht wurde. Infernalisch fesselnd wirkt das Gezeigte auch auf den erwachsenen Zuschauer, der sogartigen Kraft kann man sich nur schwerlich entziehen und ist dankbar für den ruhigen Ausklang des Meisterwerkes.
Sämtliche Musikstücke wurden säuberlich gekürzt um einen sehgerechten Rhythmus beizubehalten, die Kürzungen verfälschen allerdings nicht den Charakter der jeweiligen Komposition, einige Stücke wie zum Beispiel die „Pastorale“ von Beethoven wurden umgeschrieben, entsprechen in ihrer klanglichen Intensität aber voll und ganz den Originalen.
Noch lange nach dem Ende bleiben die ausdrucksstarken Bilder im Gedächtnis haften und es ist eine Schande, dass die Zuschauer den Film zunächst nicht zu würdigen wussten. Eine desillusionierende Enttäuschung für Walt Disney, der sich anschließend nur noch selten dem Konzertfilm widmete, und dies auch nur aus Kostengründen. Werke wie „Make Mine Music“ erreichten nicht annähernd die Klasse, die „Fantasia“ ausstrahlte und zu Lebzeiten des Firmenchefs kam es nicht zu einer Fortsetzung seines Traumprojektes.
Fazit: Der wohl beste Animationsfilm aller Zeiten – „Fantasia“ ist Kino in Reinkultur, ein Fest für Auge und Ohr und bis heute von keinem anderen noch so großen Meisterwerk erreicht. Walt Disney schenke uns viele Meisterwerke, von denen die meisten aufgrund ihrer Simplizität oft als oberflächlich abgetan werden. „Fantasia“ dagegen ist der reifste Film des Meisters, der vom Zuschauer Konzentration und Geduld erfordert, ein unvergessenes Prachtstück der Filmgeschichte.
10 / 10, selten so eindeutig wie hier…