Nihon shunka-kô (1967)
"Ai no korîda" (1976), der Skandalfilm der 70er Jahre neben Pasolinis "Salò" (1975), und der prominent mit David Bowie besetzte "Merry Christmas Mr. Lawrence" (1983) sind sicherlich die im Westen populärsten Filme Nagisa Ôshimas, der danach bis zu seinem letzten Film ("Gohatto" (1999)) nur noch sporadisch auf dem Regiestuhl Platz nahm. Bekannt geworden war er im Westen aber schon zuvor mit "Koshikei" (1968), einer zwischen Godard und brechtscher Verfremdung pendelnden, bisig-grimmigen Farce über Koreaner im Japan der damaligen Gegenwart, die heute beinahe bloß noch eine Art Geheimtipp zu sein scheint. In Japan begann sein Höhenflug (nach ersten Arbeiten im Jahre 1959) aber bereits 1960, als er mit gleich drei Filmen erheblich die Nuberu bagu, Japans neue Welle, prägte. "Nihon no yoru to kiri" (1960), der dritte dieser Klassiker, der - mit minutenlangen Plansequenzen und einer so sperrigen wie fordernden Dramaturgie - bis heute eines von Ôshimas besten Werken geblieben ist, wurde seinerzeit aber vom Studio zurückgezogen. Das führte zum Zerwürfnis mit dem Studio und Ôshimas Karriere lag zunächst brach: TV-Filme und Kurzfilme entstanden in erster Linie. Erst Mitte der 60er Jahre beginnt dann mit "Etsuraku" (1965) das, was als fruchtbarste Schaffensperiode Oshimas gelten muss, die sich bis etwa 1971/1972 hält. Seine zentralen Themen - Gewalt, Sexualität, Politik - setzt er dabei stilistisch höchst unterschiedlich um: selbst eine Art Zeichentrickfilm lässt sich mit "Ninja bugei-cho" (1967) finden; der allerdings gerade kein Trickfilm ist, sondern eine kunstvolle, rhythmische Reihung unbeweglicher Einzelbilder eines Mangas.
Der – kurze Zeit nach "Ninja bugei-cho" – am 23. Februar 1967 uraufgeführte "Nihon shunka-kô" ist ein beeindruckendes Beispiel für Ôshimas Schaffen der Nuberu bagu-Phase, das sich durch wundervolle (farbige) Breitbildformate, eine teils distanzierte Kameraarbeit, eine ohne Drehbuch radikal improvisierte Dramaturgie und einem Übergang von Wahrnehmungs- zu Imaginationsbildern auszeichnet. Wie auch in anderen Ôshimas jener Jahre lassen sich auch hier Spuren eines godardschen Einflusses entdecken. Die fest im kulturellen Kontext verankerte Geschichte über Revolte, Desillusioniertheit, Gleichgültigkeit, Tabu, Überschreitung und das Verhätnis von Intellekt und Sinnlichkeit erfordert allerdings weniger aufgrund der Improvisationen (und Imaginationen), sondern vielmehr aufgrund der Verankerung in der japanischen Gesellschaft, aufgrund der Thematisierung japanisch-amerikanischer, japanisch-koreanischer Beziehungen und des Vietnamkrieges eine Sichtung, die idealerweise durch erhellende Lektüren, Vorträge oder Diskussionen begleitet wird.
In der verdienstvollen Reihe Japanische Meisterregisseure von Polyfilm liegt "Nihon shunka-kô" dankenswerterweise seit Längerem auf DVD vor: Fassungseintrag von Don Alfredo