Scherben (1921)
Zwischen 1918 und 1931 arbeitete Lupu Pick als Filmregisseur; die ergiebigste Phase des Stummfilms hindurch – kulminierend in einem Tonfilm, Picks letzter Arbeit, uraufgeführt im Jahr seines Todes: 1931 starb Pick aufgrund eines Magenleidens, 45jährig. 1921 befindet sich Pick gerade einmal im vierten Jahr dieser 14jährigen Karriere – und dennoch in ihrer absoluten Blütezeit. 14 Filme erschienen bis 1920, 14 weitere ab 1922. Drei seiner Filme kommen 1921 heraus, darunter "Scherben", uraufgeführt am 27. Mai 1921. Es ist Picks erster großer Klassiker, der späterhin noch zum erweiterten Kanon deutschen Stummfilmschaffens gehören sollte. Wie "Sylvester - Tragödie einer Nacht" (1924), Picks zweiter großer Klassiker, und einige weitere Arbeiten Picks ab 1921 liegt dem Film ein Drehbuch Carl Mayers zugrunde. Mayer hatte maßgeblich an "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) mitgeschrieben, ebenso an den meisten Murnaus ab 1920 – und sollte 1921, als ganze acht Filme nach Mayer-Drehbüchern herauskamen, das Bild des Kammerspielfilms in die Kinolandschaft setzen. "Scherben" gilt als der große Klassiker dieser Sparte: Die zeitlich wie räumlich überschaubare Handlung erschien ihrerzeit manch einem noch als Vehikel für einen nahezu zwischentitellosen Film, der sich rein auf seine Bilder konzentriert. Auch mit Murnau sollte Mayer bei "Der letzte Mann" (1924) die Kraft der Bilder auf die Spitze treiben, diesmal außerhalb des Kammspiel-Rahmens; freilich hatte aber der Kammerspielfilm seine eigene Berechtigung, war keinesfalls bloßes Mittel zum Zweck (des zwischentitellosen Films). Und so ist "Scherben" im Grunde beides: Klassiker des Kammerspielfilms, Klassiker formbewussten Films, der auf Sprache und Schrift kaum bis gar nicht angewiesen ist. Dass gerade ein zu Lebzeiten enorm populärer Drehbuchautor, der auch so manche Lesung gab, diesen sprach-/schriftarmen Klassiker hervorbrachte, entbehrt nicht einer feinen Ironie. Wie selbstbewusst dieses Experiment angegangen worden ist, zeigt sich schon in den ersten Bildern: Scherben sind zu sehen, leinwandfüllend, dann die Titeleinblendung "Scherben". Das Bild wird hier wortwörtlich Wort – und wird später im übertragenen Sinne Wort. Sauber erarbeitet sind die Bildkompositionen und Leitmotive des Films, in dem sich auch schon einmal Bilder ins Bildfeld schieben wie die Züge, die regelmäßig am Haus des Bahnwärters (Werner Krauss) entlangfahren, dessen Familie bald ebenso in Scherben liegt wie (als mahnendes Omen) eines seiner vielen Fenster, deren Fensterkreuze widerum ebenso mahnend wirken wie jenes Holzkreuz im Gebirge, an dem des Bahnwärters Gemahlin in finsterer Schneenacht verzweifelt betet und dabei erfriert. Das alles kann man bereits eine ganze Spur zu symbolbeladen finden, zu künstl(er)i(s)ch und zu wenig organisch, zu wenig lebendig. "Scherben" ist letztlich doch, trotz enorm reduzierter Texttafeln, ein sehr literarisch gedachter Film, vielleicht eine Spur zu durchdacht, zu komponiert, zu clever, um wirklich anzurühren. Aber freilich hat und hatte auch diese Form der (Film-)Kunst stets ihren berechtigten Platz in der Filmgeschichte und dementsprechend ihre Befürworter(innen) gefunden.
Mit dem ebenfalls auf Mayer zurückgehenden ältesten noch erhaltenen Film Murnaus, "Der Gang in die Nacht" (1921), liegt "Scherben" mittlerweile als gewohnt sorgfältig gestaltete DVD der Edition Filmmuseum vor: Fassungseintrag von Black Smurf