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von ratz

Vor 50 Jahren: Vollendetes Kunstkino aus Ungarn

Stichwörter: 1970er Drama Experimentalfilm Hernádi Historienfilm Jancsó Jubiläum Klassiker Spielfilm Törőcsik Ungarn


Szerelmem, Elektra (1974)

Anfang der 1970er Jahre hatte sich der Autorenfilmer Miklós Jancsó bereits international einen Namen gemacht, seine Filme liefen weltweit auf den großen Festivals – keine Selbstverständlichkeit für Künstler aus dem damaligen Ostblock. Sicherlich bewog dieser Erfolg die staatliche ungarische Filmindustrie, Jancsó wiederholt große künstlerische Freiheit und Ressourcen zu gewähren, so auch für seinen formal äußerst eigenwilligen Film „Szerelmem, Elektra“, der am 12. Dezember 1974 in Ungarn Premiere feierte.

Wie nur wenige Filmemachern seiner Generation und Herkunft hatte Jancsó seit Mitte der 60er Jahre die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, im Klima der ungarischen Liberalisierung einen Personalstil zu prägen, der schon nach wenigen Filmminuten wie ein Markenzeichen wiedererkennbar ist: In sehr langen Einstellungen und mit ständig sich bewegender Kamera führen große Darstellergruppen eine Art Choreographie in der ungarischen Landschaft auf, dabei spielen Nacktheit und Uniformen, Pferde und Reiter, elliptische Dialoge, gesungene Lieder und volkstümliche Tänze eine wiederkehrende Rolle. Die Handlung verarbeitet meist ein spezifisches Ereignis aus der ungarischen Nationalgeschichte mit kaum verhüllten Verweisen auf die aktuelle (kommunistisch geprägte) Gegenwart. Seine faszinierende filmische Handschrift hatte Jancsó über mehrere Filme hinweg weiterentwickelt und variiert (etwa 1969 in „Fényes szelek“, Anniversarytext, oder 1972 in „Még kér a nép“, Anniversarytext), und man kann „Szerelmem, Elektra“ als einen Kulminationspunkt dieser Ästhetik bezeichnen. In den gesamten 75 Filmminuten gibt es nur 12 Einstellungen, innerhalb welcher hunderte Darsteller hochkomplexe, ballettartige Choreographien entfalten, denen sich die stilisierten, poetisch zugespitzten Dialoge von Drehbuchautor Gyula Hernádi unterordnen. Den historischen Rahmen bietet diesmal nicht Ungarn, sondern die Orestie, jene Theater-Trilogie des antiken griechischen Dichters Aischylos. Im Gegensatz zu dessen Tragödie lassen Hernádi und Jancsó die Titelheldin Elektra (Mari Törőcsik) jedoch nicht auf Königsmord sinnen, um ihre Rachegelüste zu befriedigen, sondern um sich und dem Volk durch Revolution zur Freiheit zu verhelfen. Durch anachronistische Kostüme, Frisuren und Requisiten wird in „Elektra“ das historische Setting gezielt durchbrochen bzw. transzendiert, was dem Film einen parabelhaften Charakter verleiht und seine fantastisch-enigmatische Anmutung noch verstärkt.

Ob der schließlich gestürzte tyrannisch Herrscher Aigisthos in „Szerelmem, Elektra“ tatsächlich als Verkörperung des umstrittenen ungarischen kommunistischen Ministerpräsidenten János Kádár gelesen werden kann, oder doch als allgemeingültige, historisch wiederkehrende Figur, läßt Jancsó offen, unmißverständlich universal bleibt indessen die als Aufforderung verstandene Botschaft, gegen Unrecht und Unterdrückung Widerstand zu leisten. Fast alle von Jancsós Filmen verhandeln auf die eine oder andere Weise dieses Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht, das macht eine in den USA erschienene, überaus empfehlenswerte Miklós-Jancsó-Collection deutlich, deren sechs frisch restaurierte Filme in „Szerelmem, Elektra“ gipfeln (Fassungseintrag). In Großbritannien ist der Klassiker auch einzeln beim Label Second Run als gut ausgestattete DVD oder Blu-ray erschienen.







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