As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty (2000)
Jeder Depp kann sich heutzutage vor seine Cam setzen und dann mit der eigenen Meinung um Gott und die Welt kreisen, um eigentlich doch vor allem sich selbst möglichst publikumswirksam auszustellen. Diese Selbstverständlichkeit mag ein wenig den Blick auf jene raren Filme verstellen, die im 20. Jahrhundert private Aufnahmen öffentlich werden ließen: dabei konnte es sich um Amateurfilme handeln, die für den Freundeskreis gedacht doch nach und nach ein größeres Publikum im Underground-Sektor fanden, oder um filmische Tagebücher und Briefwechsel sowie essayistische Autoporträts, die sich ein Avantgarde- oder Essay-affines Publikum suchten. Jonathan Caouettes "Tarnation" (2003) war ein solches Werk: eines der letzten vor der YouTube-Gründung im jahr 2005. Auch der am 4. November 2000 uraufgeführte "As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty" (2000) zählt zu den letzten Filmen dieser Art, bevor die Möglichkeit, sich in Filmaufnahmen mitzuteilen, zunehmend mehr Menschen offen stehen sollte. Und "As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty" ist eines der besten dieser Werke; ja überhaupt einer der besten Filme, die bisher entstanden sind. Jonas Mekas, der 2019 96jährig verstorbene Regisseur, galt zum Erscheinungszeitpunkt bereits als Altmeister seiner Kunst: Als Herausgeber, Kritiker, Film-makers' Cooperative-Gründer und Kurator/Filmvorführer, der seinen Einsatz in moralinsauren Zeiten noch mit Verhaftungen bezahlte, hat er sich um den Film verdient gemacht; mit einer Bolex drehte er zudem in den 50er Jahren zunächst home movies und beschäftigte sich schnell sehr intensiv mit dem Avantgardefilm, um in den 60er Jahren seinerseits zu einem der bekanntesten New American Cinema-Vertreter zu avancieren. Ab "Diaries, Notes and Sketches" (1969) begann seine Arbeit emotionaler, subjektiver, persönlicher und autobiografischer zu werden; das wurde ihm wie eine "fehlende Polititisierung" seinerzeit durchaus auch zum Vorwurf gemacht. Aber gerade der emotionale Blick auf die eigenen Erinnerungen und die Menschen und Dinge um ihn herum ist so lohnenswert bei diesem Filmemacher, der immerein auf ein ausgesprochen bewegtes Leben zurückblicken konnte: Geburt in Litauen, deutsche Besatzung, missglückte Flucht mit dem Bruder in die Schweiz, Arbeitslager der Nationalsozialisten, DP-Lager der Nachkriegszeit, Philosophiestudium an der der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, Emigration in die USA, Eintauchen in die New Yorker Kunst- und Avantgardeszene… Und "As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty" sollte schließlich sein großes Opus Magnum werden: ein 288 Minuten langer Film, in dem Text und Bild als assoziativer Lebensstrom am Publikum vorbeiziehen, teils in rhythmischer Einzelbildschaltung. Darin: fragmentarische, in Mekas' Erinnerungen immer wiederkehrende Bilder, Aufnahmen seiner Tochter Oona, die um Jahre älter wird in den fast 5 Stunden Laufzeit, Mekas' prominente Wegbegleiter in intimen Momenten und – immer wieder – Musik, die erheblich zur sich wandelnden Atmosphäre dieses Films beiträgt. Gewiss: Wer sich auf solch ein Erlebnis nicht einlassen mag, wem das als vermeintlich Nabelschau zuwider ist, wird mit "As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty" und seiner Überlänge eher unglücklich als glücklich. Wer aber offen für diese besondere Sparte der Filmkunst ist, bekommt einen Markstein geboten, den Sight & Sound zuletzt unter die 250 großartigsten Filme überhaupt wählen ließ.
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