Kamen (1992)
Aleksandr Sokurov? Er ist für Cineasten längst kein Unbekannter mehr, spätestens seit er mit "Russkiy kovcheg" (2002) den ersten Langfilm gedreht hat, welcher mit einer einzigen, anderthalbstündigen Einstellung auskommt – was angesichts des Drehortes, der nur kurze Zeit für Dreharbeiten zur Verfügung stehenden Eremitage, eine echte koordinatorische Glanzleistung ist. Bekannt geworden war er einem kleineren Kreis im Westen schon mit "Mat i syn" (1997). Es ist jedoch bezeichnend, dass Sokurov – der heute neben Andrey Zvyagintsev zu den ganz Großen des russischen Kinos zählt – noch 2001 im Großen Personenlexikon des Films von Kay Weniger keinerlei Erwähnung findet, gleichwohl er schon seit 1974 Filme dreht; anfangs noch ermuntert von Andrei Tarkovsky, als dessen Nachfolger Sokurov heute von vielen gehandelt wird. Dabei kannte man Sokurov hierzulande schon über seine Texte: Der Tarkowskij-Band aus Hansers lobenswerter Reihe Film beginnt etwa mit einer umfangreichen Einleitung von Sokurov.
Aber auch in Russland hatte Sokurov erst spät Erfolge als Filmemacher feiern können: Viele seiner Filme – insbesondere seine ersten Langfilme – gelangen gar nicht in die Kinos. Erst im Rahmen der Perestroika feiert Sokurovs Spielfilmdebüt seine Premiere: 1987 erst kann er seinen Durchbruch feiern – zu der Zeit hat er bereits zwei Langspielfilme gedreht, einen dritten Langspielfilm begonnen, zwei abendfüllende Essayfilme inszeniert und dreizehn Kurzfilme in Szene gesetzt. "Dni zatmeniya" (1988), sein dritter Langspielfilm – eine eigenwillige SciFi-Geschichte nach Strugatskiy-Vorlage – beginnt noch mit einem expliziten Verweis auf Tarkovsky, lässt aber auch absurde, beinahe fellineske Züge erkennen, die im vorangegangenen "Skorbnoye beschuvstviye" (1983/1987) noch wesentlich stärker ausgefallen waren, was dann auch zum Formalismus-Vorwurf und zum vorübergehenden Produktionsstop führte. Im Debüt, in "Odinokij golos cheloveka" (1978/1987), fehlten diese absurden Züge noch, die – bereits Eigenständigkeit aufweisende – Nähe zu Tarkovsky fiel noch etwas größer aus. Und gleichwohl die danach hinzugekommenen absurden Züge nie wieder gänzlich aus Sokurovs Werk verschwinden sollten und obwohl Sokurov stets beteuerte, kein Tarkovsky-Erbe zu sein (als welcher auch viel eher Konstantin Lopushansky gelten muss), sind die Gemeinsamkeiten bis heute nicht zu übersehen: Auch Sokurov versteht den Film als eine Zeit-Kunst, gibt dem Atmosphärisch-Sinnlichen jede Menge Raum und weist das Aktions-Reaktions-Schema des klassischen Mainstreamfilms weit von sich. Und wie Tarkovsky muss Sokurov als "antiavantgardistischer Avantgardist" (H.-J. Schlegel) gelten, der etwa die Schnitt-Eskapaden und den explizit metafilmischen Experimentalfilm-Gestus des US-Undergrounds geringschätzt, aber zugleich auf eine innovative, originelle, ungewöhnliche Ästhetik setzt, die sich vom Gros der Filmlandschaft abhebt. Sokurov verfolgt nicht selten einen radikalen Minimalismus – der all jenen, die schon Tarkovsky Langsamkeit und Langeweile vorwerfen, vollends die Zähne ziehen dürfte –, den er mit eigenwilligen Bildverfremdungen mischt. Jacques Rancière hat Sokurov einmal zurecht auf den Piktorialismus in der Fotografie zurückgeführt: Aber Sokurov arbeitet darüber hinaus auch mit Verzerrungen des Bildes und mit Zeitlupen, die sein Konzept der ästhetischen Verfremdung – welche einen nicht distanziert, sondern eher affiziert – erst zur vollen Ausprägung geraten lässt. "Spasi i sokhrani" (1989), seine vor allem mit Weitwinkel-Bildern operierende, farbige Flaubert-Verfilmung, und "Krug vtoroj" (1990), ein teils karg-dokumentarisch, teils atmosphärisch-sinnlich anmutendes Kammerspiel, schließen dann Sokurovs Frühwerk ab; wobei man in "Krug vtoroj" bereits ein Übergangswerk sehen kann, dessen Anlagen (Gemächlichkeit, düsteres, matt-tristes s/w, Weitwinkelaufnahmen) Sokurov in "Kamen" noch erheblich radikalisiert.
"Kamen", der im August 1992 auf dem Locarno Film Festival Premiere feierte, fügt den Weitwinkel-Aufnahmen noch nachträglich krass verzerrte Aufnahmen hinzu, dämpft die Helligkeit und den Kontrast der s/w-Bilder nochmals erheblich, fügt unauffällige Doppelbelichtungen hinzu, arbeitet viel mit Nebeln und Schwaden, zitiert Motive der romantischen Malerei, macht Anleihen beim expressionistischen deutschen Stummfilm, reduziert die Dialoge zugunsten einer durchkomponierten Geräuschkulisse und hält sich weitgehend an eine irreale Traumlogik.
Und diese Absonderlichkeit des Films wird noch dadurch unterstützt, dass er – etwas elitär – recht kryptisch anmutet, wenn man nicht entweder die Hochkultur perfekt beherrscht oder sich zumindest im voraus ein wenig auf den Film vorbereitet hat. Wer das Chekhov-Museum in Jalta nie gesehen hat, wer nie ein Bild von Chekhov gesehen hat, ist rettungslos verloren, denn "Kamen" erzählt seine Geschichte nicht über Dialogzeilen, sondern über Bilder, die man erst einmal wiedererkennen können muss. Denn der Film spielt im Chekhov-Museum, das hier als Wohnraum fungiert; und ein Eindringling, der wie Chekhov aussieht (und sich später kurzzeitig in ein Grab im Wald niederlegen wird), sucht dieses heim. (Der Film variiert also die Episode der geisterhaften Besucherin aus Tarkovskys "Zerkalo" (1975).) Der eigentliche Bewohner (oder Museumswärter?) wird den Eindringling nicht los, welcher das Gebäude erkundet und teils kryptische Monologe von sich gibt. (Man kann hierin quasi den Prototyp von Sokurovs späteren, essayistischen Museums-Porträtfilmen sehen.)
Für den Laien präsentiert sich hier zumindest eine morbide Phantasmagorie, die den Touch von Sokurovs zahlreichen essayistisch-dokumentarischen Elegien in sich birgt. Chekhov-Spezialisten können den Film darüber hinaus auch als Werk-Deutung auslegen, zumal viele Landschaftsbeschreibungen und das Gebaren des alten Rückkehrers an Stellen in Chekvos Erzählung "Dama s sobatschkoi" (1899, Die Dame mit dem Hündchen) erinnern; und nicht zuletzt ist "Kamen" auch ein Film über eine Rückkehr Russlands zu sich selbst. Sokurov, der trotz seiner gelegentlichen (aber immer milden) Russland-Kritik ein ausgesprochen slawophiler Regisseur ist, inszeniert hier nach dem Ende der Sowjetunion die Rückkehr des 1904 verstorbenen Schriftstellers Chekhov in sein Jaltaer Haus, die Weiße Datsche, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte und einige seiner bekanntesten Werke – darunter eben auch "Dama s sobatschkoi" – schuf. Auch einen politischen Kommentar muss man daher in diesem – auf den ersten Blick so inhaltsarmen – Film sehen.
Wie viele frühe Sokurovs war auch "Kamen" lange Zeit nicht gut greifbar. Immerhin hat Cinema Guild die Edition Sokurov. Early Masterworks veröffentlicht, in welcher "Spasi i sokhrani" [DVD], "Kamen" [DVD], "Tikhiye stranitsy" (1993) [DVD/BluRay] – welcher sich nochmals auf höchst unzugängliche Weise mit der russischen Literatur beschäftigt – mit vier Kurzfilmen auf zwei DVDs und einer BluRay vorliegen: Fassungseintrag von PierrotLeFou
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