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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Subversiver Horror aus Spanien

Stichwörter: 1970er Bardem Bosè Drama Erotik Grau Guerín Historienfilm Horror Jubiläum Klassiker Kriminalfilm Marisol Seberg Spanien Spielfilm Thriller

La corrupción de Chris Miller (1973) & La campana del Infierno (1973) & Ceremonia sangrienta (1973)

Mit dem Horrorfilmstar Paul Naschy und insbesondere mit seinen Werwolfsfilmen sowie mit Armando de Ossorios Filmreihe der reitenden Leichen hatte der Horrorfilm in Spanien in den letzten Jahren des Franquismus im Zuge leichter Lockerungen der Zensur einen immensen Boom erlebt. Grafische Gewalt, gothic-Versatzstücke und ein wenig – fürs Ausland meist noch expliziter gestaltete – Erotik fanden problemlos ihr Publikum; zugleich aber entdeckten auch die spanischen Autorenfilmer das Genre für sich und drehten etwas subversivere, eigensinnigere Horrorfilme, die aufgrund der mangelnden Vordergründigkeit heute weniger in der Breite bekannt sind, aber dafür von eingeweihten Genresfans vielfach zu den heimlichen Perlen gezählt werden.
Juan Antonio Bardem, dessen Neffe Javier längst zu den großen europäischen Filmstars zählt, hatte sich Mitte der 50er Jahre mit "Muerte de un ciclista" (1955) sowie "Calle Mayor" (1956) zu Spaniens profiliertesten Regisseuren gemausert, sich Anfang der 70er Jahre dann aber längst kommerzieller orientierten Stoffen geöffnet: So drehte er als Ko-Regisseur an der Jules-Verne-Verfilmung "La isla misteriosa" (1973) mit und inszenierte mit dem am 17. Mai 1973 uraufgeführten "La corrupción de Chris Miller" einen lupenreinen Psychothriller. Jean Seberg und Marisol leben darin als Stiefmutter und -tochter gemeinsam in einem Haus, in dem sich bald auch ein attraktiver Landstreicher Eingang verschaffen wird. Das angespannte Verhältnis zwischen den Frauen – die jüngere traumatisiert, die ältere verbittert – erhält durch die Fliehkräfte der Begierde eine ganz neue Dynamik... vor allem, als ein neuer Mord die Umgebung erschüttert und der Eindringling freilich schwer verdächtig wirkt. Bardem, der in seinen 50er-Jahre-Klassikern bereits Verdrängung und Verantwortung ins Zentrum gerückt hatte, verortet hier erst einmal subtile Gewalt innerhalb der Familie, um fast im selben Atemzug auch die Sexuellen Triebe als gewalttätig auszuweisen. Hier wird nichts auf Halbwesen oder in die Vergangenheit projiziert, sondern das wahre Grauen im eigensten Inneren gefunden. Nur langsam drang der Film über die Jahre auch in andere Sprachräume vor; die seriöse Filmkritik nahm dem ambitionierten Dramen-Regisseur die Anbiederung beim populären Film scheinbar übel, für das Horror-Fandom bot der Film insgesamt zu wenig Monströses. Mehr zum Film verrät das Review von GrafKarnstein...
Als Claudio Guerín bei den Dreharbeiten zum Horrorthriller "La campana del Infierno" kurz vor Drehschluss im Februar 1973 auf dem Set tödlich verunglückte, da schien Bardem der passende Mann zu sein, das Werk des nur 34 Jahre alte gewordenen Kollegen abzuschließen, der zuvor mit der Gemeinschaftsarbeit "Los Desafíos" (1969) und dem Drama "La casa de las Palomas" (1970) aufgefallen war. Der tödliche Ausflug ins Spannungskino handelt ebenfalls von Gewalt in der Familie: Juan dürfte eigentlich nach dem Tod seiner Mutter sein Erbe antreten – hätten ihn nicht Tante und Nichte in eine Psychatrie einweisen lassen. Als er dann probeweise entlassen wird, sinnt er freilich auf Rache; aber auch die Verwandtschaft führt nichts Gutes im Schilde. Diese Geschichte einer sich im Innersten zersetzenden Gesellschaft leistet sich dabei symbolträchtige Orte: neben dem Familienwesen etwa das Schlachthaus – gerade im spanischen und lateinamerikanischen Film der 60er und 70er Jahre immer wieder eine Metapher für kaschiertes institutionalisiertes Unrecht im Verborgenen –, aber auch die Heilanstalt, in der unliebsame Mitmenschen gut aufgehoben sind, sowie der im Titel anklingende Glockenturm, in der sakraler Glockenklang und Inferno fest zusammengehören. "La campana del Infierno" kam am 16. September 1973 heraus und teilte mehr oder weniger das Schicksal von Bardems "La corrupción de Chris Miller". Mehr? Review von buxtebrawler...
Jorge Grau – in den 60er Jahren wie der etwa zehn Jahre ältere Bardem – ein vielversprechender Regisseur des Nuevo cine español und Horrorfans vor allem durch sein "Non si deve profanare il sonno dei morti" (1974) vertraut, blickte parallel zu "La campana del Infierno" mit dem am 10. September 1973 uraufgeführten "Ceremonia sangrienta" keinesfalls in die Gegenwart, sondern auf den berüchtigten Fall der Gräfin Bathory (Lucia Bosé), der in den 70er Jahren so viele erotische Horrorfilme, insbesondere Vampirfilme, inspirierte. "Countess Dracula" (1971) von Peter Sasdy dürfte damals noch jemandem Horrorfan im Gedächtnis gewesen sein, aber Grau geht ganz eigene Wege: Er zeigt eine Gesellschaft, in der gleich zu Beginn bei vermeintlichen Vampirismusfällen der Aberglaube grassiert, den die aristokratischen Monster nutzen, um ihre eigenen Verbrechen zu tarnen; und Tarnung ist ja stets das ganz große Thema bei der Blutgräfin gewesen, die ihr Alter im Blut junger Frauen habe ertränken wollen, die ihren Verfall hinter der schönen Fassade straffer frischer Haut habe verstecken wollen... Und wenn man die Bathory schon nicht als stellvertretend für einen ganzes Milieu, einen eigenen Stand, sehen will, so bleibt sie doch eingebettet in eine Gesellschaft, in der bei offenkundigen Vergehen drastische Leibesstrafen von einer streng christlichen Obrigkeit verhängt werden. Ein Schelm, wer Böses denkt bei solch einer Produktion aus dem erzkatholischen Spanien, in dem noch 1974 Hinrichtungen mit der Garotte durchgeführt worden sind. Kirche, Staat und Adel kommen allesamt nicht gut weg in diesem Film, der freilich – wie es die spanische Zensur über längere Zeit hinweg eingefordert hatte – die Gräuel weder im Hier noch im Jetzt ansiedelt, aber dennoch Bände spricht.


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