Deux fois cinquante ans de cinéma français (1995) & Lumière et compagnie (1995)
In Bälde, im Jahr 2024, wird man Gelegenheit haben, 150 Jahre Filmgeschichte zu feiern, wenn man die fotografischen Bewegtbilder – wofür es gute Gründe gibt – bis in das Jahr 1874 zurückdatiert. Dass im heute begonnenen Jahr 2020 die Feier des 100-jährigen Jubiläums ein Vierteljahrhundert zurückliegt, mag da zunächst irritieren, ist allerdings kein Widerspruch: denn was da 1895 im Rückblick eine Geburtsstunde zu sein schien, war letztlich eine Geburtsstunde des Kinos, keine Geburtsstunde des Films. Am 1. November 1895 kam es unter den Brüdern Skladanowsky zu den ersten kommerziellen Bioskop-Vorführungen im Rahmen des berühmten Wintergarten-Programms. Und in Frankreich fand am 28. Dezember 1895 am Boulevard des Capucines in Paris Frankreichs erste kommerzielle Filmvorführung statt – dort unter den Brüdern Lumière –, woraufhin sich Georges Méliès, einer der Pioniere der Filmkunst, angeregt sah, ab 1896 seinerseits eine Karriere als Filmschaffender zu beginnen.
Jean-Luc Godard wies mit seiner Partnerin Anne-Marie Mieville in ihrem Ende Mai 1995 veröffentlichten "Deux fois cinquante ans de cinéma français" darauf hin, dass es sich bei der allseits gefeierten Geburtsstunde des Kinos eben wirklich bloß um das Kino als kommerzielle Institution und keinesfalls um den Film als Medium handelte. Und ohnehin wären Geburtstag ja bloß Anlässe, sich einmal um jene Jubilaren zu kümmern, die man an den restlichen Tagen ein wenig unter den Tisch fallen ließ. "Deux fois cinquante ans de cinéma français" gehörte vor 25 Jahren zu einer ganzen Reihe von Dokumentarfilmbeiträgen zur Feier des 100-jährigen Kinos, hinter denen vor allem das British Film Institute (BFI), aber auch arte und andere Sender & Produktionsfirmen standen. Zu dieser Reihe gehörten in diesem Jahr etwa noch Edgar Reitz' "Die Nacht der Regisseure" (1995), Pawel Lozinskis "100 Lat W Kinie" (1995), Stig Björkmans "I Am Curious: Film" (1995), Donald Taylor Blacks "Irish Cinema: Ourselves Alone?" (1995), Nelson Pereira dos Santos' "Cinema de Lágrimas" (1995), Scorseses "A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies" (1995), Neills "Cinema of Unease: A Personal Journey by Sam Neill" (1995), Nagisa Oshimas "100 Years of Japanese Cinema" (1995) sowie Jang Sun-Woos "Gilwe-eui younghwa" (1995, Korea - Kino im Aufbruch). All diese Beiträge widmeten sich mit ganz unterschiedlichen Ansätzen jeweils der nationalen Filmkultur und geben gerade für Außenstehende und interessierte Laien interessante Einblicke; weitere Beiträge folgten bis zum Millenium. Godards Werk hebt sich insofern von den restlichen Beiträgen ab, weil es sich jeder Geburtstagsfeierlaune komplett verweigert... Geburtstage wären ohnehin zwiespältige Angelegenheiten, es träfe das falsche Jahr bzw. mit dem Kino(film) das falsche Geburtstagskind – und vor allem: So etwas wie eine 100-jährige Kontinuität im Bereich der kommerzialisierten Filmkunst gäbe es ohnehin nicht. Weshalb Godard in seinem Titel dann auch 2x 50 Jahre erwähnt. Es geht es also um den Bruch, den der Kinofilm zum Ende des zweiten Weltkriegs erlebte – und den der französische Filmphilosoph Gilles Deleuze in seinen Kinobänden umkreiste, um im Film der Nachkriegszeit ab dem Neorealismus den Beginn einer filmischen Moderne zu erblicken. Doch Godard leistet auch keine Filmgeschichtsstunde, sondern beklagt sich im Zwiegespräch mit Frankreichs Filmstar-Ikone Michel Piccoli über eine Jugend, die zwar Filme zuhauf sieht, aber von der Geschichte des Kinofilms keinerlei Kenntnis besitzt und darüber hinsaus sehr stark auf bestimmte Genres, Regisseure und Hollyood eingeschossen sei. In diesem Kontext geht Godard dann auch harsch mit Quentin Tarantino ins Gericht, welcher Godards Schaffen ungemein viel verdankt, der aber wie sein Werk von Godard nie als ernstzunehmender Filmschaffender anerkannt worden ist und seinerseits etwas pikiert auf solche Zurückweisungen reagierte. Neben "Deux fois cinquante ans de cinéma français" sind auch die übrigen Teile der Reihe in der Edition Das Jahrhundert des Kinos: Filmgeschichte weltweit von absolut Medien zu bekommen: Fassungseintrag von Angelus Mortis
Neben der dokumentarischen Reihe des BFI wurden 100 Jahre Kinofilm 1995 noch auf andere Weisen filmisch gewürdigt. Da wäre "Les cent et une nuits" (1995) von der diesjährig verstorbenen Agnés Varda: Eine künstlerisch leider ziemlich gescheiterte Komödie, in der ebenfalls Michel Piccoli eine Sonderrolle als Monsieur Cinéma bekleidet, derweil an seiner Seite ein Mammut-Cast agierte: Marcello Mastroianni, Anouk Aimée, Fanny Ardant, Jean-Paul Belmondo, Jean-Claude Brialy, Alain Delon, Catherine Deneuve, Robert De Niro, Gérard Depardieu, Harrison Ford, Gina Lollobrigida, Jeanne Moreau, Hanna Schygulla, Jane Birkin, Stephen Dorff, Andréa Ferréol, Assumpta Serna, Isabelle Adjani, Daniel Auteuil, Clint Eastwood, Arielle Dombasle, Daryl Hannah, Jean-Pierre Léaud, Martin Sheen, Harry Dean Stanton u. v. a. Gewichtiger war jedoch eine andere französische Filmproduktion, die in diesem Jahr die europäisch-nordamerikanische Crème de la Crème zusammenbrachte: der unter anderem von arte und Canal+ produzierte Episodenfilm "Lumière et compagnie", der unter Sarah Moons Oberleitung entstanden war und am 20. Dezember 1995 erstmals gezeigt worden war: Fast exakt 100 Jahre vor der ersten Aufführung von Lumière-Filmen. Zahlreiche Regisseure erhielten hier die Gelegenheit, mit einer Originalkamera der Lumières eigene 52-Sekünder anzufertigen. Theodoros Angelopoulos, Vicente Aranda, John Boorman, Youssef Chahine, Alain Corneau, Costa-Gavras, Raymond Depardon, Francis Girod, Peter Greenaway, Lasse Hallström, Hugh Hudson, Gaston Kaboré, Abbas Kiarostami, Cédric Klapisch, Andrey Konchalovskiy, Spike Lee, Claude Lelouch, Bigas Luna, Arthur Penn, Lucian Pintilie, Helma Sanders-Brahms, Jerry Schatzberg, Nadine Trintignant, Fernando Trueba, Liv Ullmann, Jaco Van Dormael, Régis Wargnier, Wim Wenders, Yoshishige Yoshida, Yimou Zhang, Merzak Allouache, Gabriel Axel, Michael Haneke, James Ivory, Patrice Leconte, David Lynch, Ismail Merchant, Claude Miller, Idrissa Ouedraogo und Jacques Rivette machten sich als Vertreter amerikanischer, europäischer, asiatischer und afrikanischer Filmkunst daran, den Brüdern Lumière zu huldigen. Das Ergebnis ist ein origineller, abwechslungsreicher Episodenfilm, in dem so renommierte Filmemacher wie auch vielversprechende Newcomer mit einer nicht minder beeindruckenden Flut an Stars eingebunden waren und dessen Beiträge zumeist die Filmkunst selbst reflektieren und würdigen. Ein Leckerbissen für Cineasten also, mit interessanten Beobachtungen der Dreharbeiten und kurzweiligen Interview-Sequenzen gekittet, welche die knappe Hälfte der 90minütigen Laufzeit einnehmen.
Mehr? Review von PierrotLeFou