Tigre Reale (1916)
Als Pina Menichelli 1984 gestorben ist, lag ihr letzter Auftritt vor der Kamera 60 Jahre zurück. Menichelli - 1890 geboren und 1907 zum Theater gekommen - stand lediglich zwischen ihrem 23. und 35. Lebensjahr vor der Kamera, um in diesen Jahren eine der größten Diven des italienischen Kinos zu werden: eine bildschöne Frau mit einem Hang zu verführerischer, ja geradezu verruchter Mimik, mit einer nahezu aggressiven Erotik, mit einem Faible für die Rolle der femme fatale... Nach sechs Jahrzehnten, in denen ihre Filme kaum zu sehen waren und in denen sie selbst sich ins Privatleben zurückgezogen hatte, flammte mit ihrem Tod das Interesse an ihrem filmischen Werk wieder auf: Man restaurierte, was nicht verschollen war, und brachte Pina Menichelli einem neuen Publikum nahe.
"Tigre Reale" - am 9. November 1916 uraufgeführt - ist mehr noch als der zuvor entstandene "Il fuoco" (1916) das Werk, mit welchem Menichelli einst ihren großartigen Ruf untermauern konnte: Ein beachtlicher Publikums- & Kritiker-Erfolg, der - wie schon "Il fuoco" - von Giovanni Pastrone inszeniert worden war. Pastrone, der 1914 immerhin mit "Cabiria" (1914) einen der Meilensteine des italienischen Stummfilms geschaffen hatte, kommt hier zwar weniger momunmental und spektakulär daher, bietet aber trotzdem noch in jeder Hinsicht unglaublich viele Schauwerte: Ganz abgesehen von der Menichelli selbst wäre da etwa die weite Winterlandschaft Sibiriens oder das lichterloh brennende Hotel Odeon im Finale, welches Pastrone mit der Unterstützung des Trickeffekt-erfahrenen Kameramanns Segundo de Chomón bewerkstelligen konnte. Vor allem aber besticht die Inszenierung mit Kamerahandhabung und Montage: Es gibt hier immer wieder kleine, aber enorm effektive Kamerafahrten, die manchmal auf die zentralen Figuren oder gar auf deren Gesichter zufahren, manchmal den Hintergrund vorbeieilen lassen, derweil der umkreiste Vordergrund in aller Ruhe präsentiert wird; den Wechsel zwischen verschiedenen Einstellungsgrößen beherrscht Pastrone inzwischen ohnehin ganz selbstverständlich, sodass "Tigre Reale" auch heute noch nicht allzu weit von gängigen Seherfahrungen entfernt ist. Erstaunlich ist aber, dass Pastrone für das Einwirken der Vergangenheit auf die Personen nicht bloß mit einer seinerzeit ohnehin noch nicht als konventionell geltenden Rückblende arbeitet, sondern noch zusätzliche Mittel und Wege findet: Wo Yakov Protazanov etwa zeitgleich in seiner Puschkin-Verfilmung "Pikovaya dama" (1916) exzessiv auf die Überblendung und die Doppelbelichtung setzt, um die Heimsuchung durch das Vergangene zu visualisieren, da setzt Pastrone darauf, in Spiegeln und auf Theaterbühnen - und häufig ohne jede tricktechnische Trickserei - die entscheidenen Anblicke auftauchen zu lassen, die bei der Hauptfigur etwas auslösen; und ebenso, wie Gegenwart und Vergangenheit in "Tigre Reale" miteinander verknüpft sind, taucht das räumlich weit hinter der Hauptfigur Liegende direkt vor ihr im Vordergrund auf spiegelnder Oberfläche auf, um ihr entgegenzustreben. Es steckt jede Menge Fingerspitzengefühl in Pastrones Inszenierung, die nochmals ausdrücklich beweist, dass er nicht einfach bloß der Meister des Bombasts, sondern ein begnadeter Regisseur war, der zu dieser Zeit neben Griffith, Christensen und Bauer zu den großen Meistern zählte. Dass ihm mit de Chomón ein hervorragender Kameramann und mit der Menichelli eine hervorragende Darstellerin zur Seite standen, wirkt sich spürbar auf "Tigre Reale" aus, der zu den besten Filmen seines Jahrgangs zu zählen ist - wenngleich die auf eine Literaturvorlage Giovanni Vergas zurückgehende Geschichte arg melodramatisch und keinesfalls frei von Kitsch und (zumindest im heutigen Rückblick) unfreiwilliger Komik daherkommt.
Worum es überhaupt geht? Inhaltsangabe von PierrotLeFou