Cronaca di un amore (1950)
Mit der oft so genannten „Entfremdungs-Trilogie“ (1960-1962) etablierte der italienische Autorenfilmer Michelangelo Antonioni seinen Ruf als europäisches Arthouse-Schwergewicht und Chronist des bürgerlichen Unbehagens in der Moderne. Es liegt natürlich nahe, rückblickend in Antonionis sechs Filmen der 1950er Jahre die Keimzellen seiner späteren Themen zu suchen, und tatsächlich wird man in seinem Langfilm-Debüt „Cronaca di un amore“ fündig, der am 18. September 1950 in Frankreich uraufgeführt wurde.
Zunächst aber ist „Cronaca di un amore“ das Spiel mit den Konventionen zweier in den 50er Jahren allgegenwärtiger Genres: des Film Noir und des Neorealismus. Der Plot könnte aus einem der berühmten amerikanischen Noirs stammen: Ein wohlhabender Unternehmer läßt seine sehr junge Ehefrau Paola (Lucia Bosè) von einem Privatdetektiv beschatten, um mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren. Das bringt ihren ehemaligen Liebhaber Guido (Massimo Grotti) auf den Plan, mit dem sie eine dunkle Vergangenheit teilt. Die Leidenschaft entflammt von Neuem, und Paola versucht als femme fatale, Guido zum Mord an ihrem Ehemann zu bewegen… Jedoch hat Antonioni kein Interesse an genretypischer Suspense, er verzichtet gezielt auf dramatisierende Elemente und läßt das Finale in einer dunklen, verregneten Nacht sogar antiklimaktisch auslaufen. Vielmehr öffnet er dem Neorealismus quasi die Hintertür, indem er das ziellose und von Ennui geprägte Leben der Schönen und Reichen zeigt (was ihm damals einige Kritiker vorwarfen, die vom Neorealismus vor allem die Darstellung des Proletariats verlangten). Paola, die aus einfachen Verhältnissen stammt, wird in dieser Welt ihres Mannes nicht heimisch, sie wandelt wie unbeteiligt durch die edlen Interieurs oder über die Straßen von Ferrara. Antonioni verwendet viele Außenaufnahmen und zeigt eine Nachkriegsstadt im Wandel, in der nüchterne, schmucklose Neubauten den Gebäuden des 19. Jahrhunderts gegenüberstehen. Das heimliche Paar Paola und Guido hat seine intimsten Momente an unbehaglichen Nicht-Orten: auf menschenleeren Industrieflächen, im Auto, im Treppenhaus, in einer billigen Absteige im Bahnhofslärm – es ist diese Art des Unbehaustseins des Individuums in der Welt, die Antonioni später immer wieder aufgreifen wird. Sein besonderes visuelles Markenzeichen ist auch in „Cronaca di un amore“ zu bewundern: in langen Takes bewegt sich die Kamera elegant um die Darsteller herum, die sich entlang sorgfältiger Choreographien durch den Raum bewegen. Diese formale Eleganz verstärkt nur das Gefühl der Distanz und Entfremdung, das keine echten Emotionen aufkommen läßt.
Die Hauptdarstellerin Lucia Bosé trägt in jeder Szene ein anderes extravagantes Kostüm – Martin Scorsese, zu dessen erklärten Lieblingsfilmen „Cronaca di un amore“ gehört, sollte nicht nur dieses Element für Sharon Stones Figur in „Casino“ (1995) übernehmen, die in mancher Hinsicht eine wiedergeborene Paola ist. Für das Heimkino ist die britische Blu-ray von Antonionis Erstling zu empfehlen (Fassungseintrag), die mit einer 2K-Restaurierung von 2004 und einigem Bonusmaterial aufwartet. Im August 2020, nur wenige Monate nach dem Tode von Lucia Bosè infolge einer COVID-Infektion, wurde in Venedig eine neue 4K-Restaurierung vorgestellt, die sicherlich auch bald ihren Weg ins Streaming und zu den Boutique-Labels finden wird. Die ausführliche OFDb-Kritik von Bretzelburger geht u.a. auf die Bezüge des Films zu anderen Klassikern des Neorealismus ein.
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