1. Mai 2020

Beitrag

von PierrotLeFou

Vor (1)25 Jahren: Arbeiter verlassen (noch immer) Fabriken

Le sortie de L'usine (1895) & Arbeiter verlassen die Fabrik (1995)

Im Salon Indien du Grand Café zählte "La sortie de l'usine" zu jenen Filmen, die am 28. Dezember 1895 erstmals einem zahlenden Publikum vorgeführt worden waren. Der gerne als erster Film der Filmgeschichte fehlgedeutete Streifen ist wohl schon im März oder Mai 1895 entstanden und wurde laut dem catalogue lumiere bereits am 10. Juni 1895 projiziert. Der Film zeigt männliche und weibliche ArbeiterInnen im Lumière-Werk bei Lyon, wie sie das Gebäude verlassen und vor der Kamera, der sie sich aus dem Hintergrund annähern, in zwei Richtungen abbiegen. Dasselbe Sujet griffen die Lumières noch mehrfach auf: Drei weitere Versionen zählt der catalogue lumiere unter den Nummern 91,2-91,4 – entstanden zwischen März 1896 und Februar 1897. Der erste Film dieser Reihe bietet mit seinem ausgelassenen Hund, der einem Fahrradfahrer folgt, einem etwas linkischen, strauchelnden weiteren Radfahrer, dem allgemeinen Tumult, zwei spielerisch, taschentuchwedelnd sich voneinander verabschiedenen Kollegen und dem peitschenschwingenden Kutscher im Hintergrund die größte Dynamik. Version 91,2 kann mit mehr parallelen Bewegungen im Vordergrund vor der Kamera und einem größeren Auftritt der Kutsche gegen Ende die insgesamt niedrigere Dynamik nicht so recht ausgleichen und Version 91,3 bietet bloß noch mit dem schnappenden, verspielten Hund und der neckischen Rockzupferei zweier Kolleginnen einen kleinen Schauwert, derweil die Version 91,4 mit ihrer schlichteren Bildkomposition und der simpleren Bewegung primitiver anmutet als die vorangegangenen Versionen. Gemeinsam sind diesen Filmen die Schmucklosigkeit des Werkes sowie das harmonische Miteinander der adrett gekleideten ArbeiterInnen. Weder Arbeitgeber noch ArbeiterInnen strahlen Macht oder Stärke bzw. Stress oder Erschöpfung aus, der Eindruck ist insgesamt idyllisch, harmonisch, fröhlich: ein positiver Eindruck, der das eigene Lumière-Werk sympathisch wirken lässt und das (zahlende) Publikum mit einem Feel-Good-Eindruck versorgt. Das ist schon – passend zum kommerziellen Vorführcharakter im Dezember 1895! – kommerziell ersonnen, denn Harmonie & Idylle zählten neben Spektakel & Exotik zu den langfristig erfolgreichen Schauwerten der Lumières, aber eine propagandistische, manipulative Selbstbeweihräucherung kann man angesichts des Pioniercharakters nicht darin erblicken: Im Vordergrund steht der noch neue Eindruck des Bewegtbildes auf das diesbezüglich noch unschuldige, naive Gemüt, auch wenn die Fröhlichkeit und Bewegung der Akteure sichtlich ebenso inszeniert ist wie die hochwertige Sonntagstracht der ArbeiterInnen. Heute hat sich zu "La sortie de l'usine" zudem längst noch die Nostalgie neben Idylle, Harmonie und Fröhlichkeit gesellt.

Dass der Film in seiner – trotz Dynamik und komplexer Bewegung(srichtung)en – eindimensionalen Darbietung keinerlei Gegenhandlung besitzt und somit unrund wirkt, ist Dreh- und Angelpunkt des am 2. April 1995 erschienenen Essayfilms "Arbeiter verlassen die Fabrik", den Harun Farocki anlässlich der 100jährigen Geschichte des (kommerziellen, institutionalisierten) Kinos herausbrachte – unter Einfluss Hartmut Bitomskys, Klaus Wildenhahns und anderer entstanden... Farocki blickt hier auf 100 Jahre Fabriken verlassende ArbeiterInnen zurück, auf immer das gleiche Bild, das aber ab dem proletarischen Film und dem Revolutionsfilm mit Spannungen aufgeladen wird, von Streiks und Streikbrechern erzählt. Farocki sinniert darüber, dass sich zur Kamera, welche die entweichenden ArbeiterInnen filmt, in den letzten Jahren auch die zahlreichen Überwachungskameras gesellt hätten; er thematisiert die Inszenierung des Arbeiters, seines Kampfes, die Inszenierung von Polizei, Militär und Fabriksgeländen. Er thematisiert aber auch die Randständigkeit dieses Sujets, das zunehmend zum Nebenschauplatz von Kriminalstoffen und ähnlichem geraten ist. Unter seinem Monolog entfalten sich dabei Filmszenen von D. W. Griffith, Charles Chaplin, Fritz Lang, Vsevolod Pudovkin, Slatan Dudow, Michelangelo Antonioni, Wochenschauen und Industriefilmen – und immer wieder: "La sortie de l'usine" (in der Version 91,3), zu dem Farocki mehrfach zurückkehrt. Dieser Hauptbezugspunkt für seine Analyse der Filmgeschichte der ArbeiterInnen, der zugleich symbolische Verkörperung des Kinogeschichtsbeginns ist, erscheint in "Arbeiter verlassen die Fabrik" immer wieder und wird von Farocki genutzt, um eine Augenscheinlichkeit des Bildes in der Nähe des Begriffs zu denken, die ihm zu einer der schönsten Filmessay-Meditationen über Marilyn Monroe (in "Clash by Night" (1952)) überhaupt verleitet: Im Film zerrinnen denkerische Bewegungen zu körperlichen Bewegungen. Und so ist Farockis Film nicht bloß ein Film über Arbeit(er(innen)) im Film, sondern ein Film über Filmtheorie und Filmphilosophie selbst. Und zugleich ist es auch noch der Startschuss für kommende Farocki-Projekte, in denen der Dokumentarist und Essayist Motive der Filmgeschichte deutet, etwa in "Der Ausdruck der Hände" (1997) oder in "Gefängnisbilder" (2000).
Enthalten ist der Film in der Edition Harun Farocki. Filme: 1967-2005 von absolut Medien.

Details