Götter der Pest (1970) & Warum läuft Herr R. Amok (1970) & Die Niklashauser Fart (1970)
1969 hatte Rainer Werner Fassbinder nach einer so kurzen wie produktiven Zeit am Theater mit seinem Langfilmdebüt "Liebe – kälter als der Tod" (1969) und dem ersten großen Fassbinder-Klassiker "Katzelmacher" (1969) den Neuen Deutschen Film erobert. 1970 nahm diese Verlagerung von der Bühne zur Leinwand, die angesichts seiner erfolglosen 1966er Bewerbung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin nicht verwundert, dann überdeutlich Form an: 13 Theaterstücke, an denen Fassbinder als Autor und/oder Regisseur maßgeblich beteiligt war, erlebten in den Jahren 1968/69 ihre Premiere; 1970 war es bloß noch ein einziges Stück im November – "Werwolf", das von Fassbinder stammte, aber allein von Peer Raben inszeniert worden war. Hingegen liefen 1969 bloß Fassbinders ersten zwei Langfilme in den Kinos an, im Jahr 1970 waren dann bereits fünf Filme Fassbinders zu sehen – soviele sollte es bloß noch einmal im Jahr 1972 zu sehen geben. Gedreht hatte er zudem im Jahr 1969 seine ersten vier Langfilme, im Jahr 1970 dann bereits sechs Filme. Für die Bühne schrieb er hingegen 1970 bloß noch eine Bearbeitung nach Lope de Vega, welche im Folgejahr aufgeführt werden sollte. So offenkundig Fassbinders Verlagerung zum Film 1970 in Erscheinung trat, so radikal zeigte sich zugleich auch die politische Stoßrichtung seiner Filme, die kein bisschen hinter den Ambitionen seiner Theaterarbeit zurückblieb: "Katzelmacher" hatte (das zeigte sich nun!) ideologisch und thematisch eine Linie vorgegeben.
Der am 4. April 1970 uraufgeführte "Götter der Pest" mag auf den ersten Blick noch wie ein kleiner Rückschritt gewirkt haben: weg vom gesellschaftskritischen Sozialdrama, wieder hin zum Genrefilm, der schon "Liebe – kälter als der Tod" dominierte. "Götter der Pest", den Wilhelm Roth einmal als den pessimistischsten und schwärzesten Film aus Fassbinders Frühwerk bezeichnete, wendet aber den Genrefilm ins Sozialpolitische: Es ist eine Geschichte über Gier und Verrat, in der die zwischenmenschlichen Beziehungen allesamt belastet sind, durch Verrat, besitzergreifende Liebe oder mangelnde Kommunikationsfähigkeit; es ist eine Gangsterballade, deren Shootout nicht zufällig in einem Konsumtempel mit seiner Konservenware stattfindet (wie es in den 70er Jahren noch vielfach bei anderen FilmemacherInnen mit satirischen Absichten der Fall war). Und auch die Posen, welche Werbung und populärer Film vorgeben, werden in diesem Kontext als Oberflächen sichtbar, mit deren Beschäftigung zugleich Menschlichkeit zu verkümmern droht. Besetzt mit Hanna Schygulla, Margarethe von Trotta, Harry Baer, Günther Kaufmann, Ingrid Caven, Irm Hermann und Fassbinder selbst atmet das Werk zudem den typischen Fassbinder-Geist, der immer auch ein wenig von der eingeschworenen Gruppierung lebte.
Gedreht hatte Fassbinder "Götter der Pest" als ersten seiner 1970er-Titel im Oktober/November 1969. Bereits im Dezember 1969 drehte er gemeinsam mit Michael Fengler den am 28. Juni 1970 uraufgeführten "Warum läuft Herr R. Amok?", vor dessen Uraufführung noch das im Februar 1970 entstandene Fernsehspiel "Das Kaffeehaus" zu sehen war. "Warum läuft Herr R. Amok?" wirft im Titel eine Frage auf, die der Film niemals direkt beantwortet, derweil er immer mehr die Frage aufdrängt, warum nicht eigentlich sehr viel mehr Leute Amok laufen... Dieser erste Fassbinder-Farbfilm wirkt kaum stilisiert, was vor allem auch an Fengler liegen dürfte, dem die recht naturalistische Inszenierung vielfach zugeschrieben wird. So vermeintlich unästhetisch zeichnet der Film ein ganz gewöhnliches Leben mit all seinen alltäglichen Banalitäten und Trivialitäten, bis die Titelfigur zu einem radikalen Befreiungsschlag greift. Die Oberflächenreize, die in "Götter der Pest" bereits thematisiert worden waren, geraten hier zur Oberflächlichkeit, in der das miefige, durchschnittliche Leben zwangsläufig zur deprimierenden Pein gerät. Nicht die kleinen Alltagsschwierigkeiten und Minderwertigkeitsgefühle, die es auch gibt, scheinen hier den Amoklauf zu begründen, sondern die völlige Abwesenheit von Sinn in einem kleinbürgerlichen Durchschnittshaushalt, dessen Durchschnittlichkeit nahezu schmerzlich penetrant anmutet. Es gibt kein richtiges Leben im falschen...
Nachdem Fassbinder im Januar 1970 "Rio das Mortes" (1971) und im April 1970 "Whity" (1971) abgedreht hat, drehte er – abermals mit Michael Fengler – in 20 Tagen im Mai den TV-Film "Die Niklashauser Fart", der am 26. Oktober 1970 erstmals zu sehen war: knapp zwei Wochen nach der Uraufführung seines Kinofilms "Der amerikanische Soldat" (1970), den er im Anschluss an die "Niklashauser Fart" im August gedreht hatte, um später im Jahr noch "Warnung einer heiligen Nutte" (1971) und "Pioniere in Ingolstadt" (1971) in Angriff zu nehmen. "Die Niklashauser Fart" beschäftigt sich mit dem revolutionären Hirten Hans Böhm, der 1476 eine riesige Anhängerschaft zum sich versammelte, ehe er als aufrührerischer Ketzer auf dem Scheiterhaufen sein Leben lassen musste. Fassbinder und Fengler lassen hier ganz unter Einfluss des Pariser Mais einerseits und Godards "Week End" (1968) andererseits anachronistisch Black-Power-Aktivisten oder Hausbesetzer-Slogans auf den historischen Stoff treffen, der die Gründe des Scheiterns einer Revolution im Hier und Jetzt behandeln will und Hans Böhm bloß als vagen Bezugspunkt nimmt, um thesenfilmartig einen so tagesaktuellen wie zeitlos-abstrakten Polit-Essay anzufertigen, der stilistisch freilich voll und ganz ein Kind seiner Zeit ist und heute mehr wie ein nur noch für Filmhistoriker relevantes Zeitdokument zwischen Agit-Prop, Collage und Minimalismus anmutet, was womöglich auch seine relativ geringe Wertschätzung erklärt.