1. Juni 2022

Beitrag

von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Wildes Kino aus Belgien

Les tueurs fous (1972)

Um das Jahr 1968 herum kristallisiert sich im US-amerikanischen wie im europäischen Kino eine neue Form von Skandalträchtigkeit, von Darstellungsmöglichkeiten gewalttätiger oder sexueller Handlungen heraus; die frühen 70er Jahre wimmelten entsprechend nur so von Skandalfilmen, bei denen der Stein des Anstoßes auch heute noch gut nachvollziehbar ist. Manche dieser Skandalfilme gehen als große Werke in die Filmgeschichte ein, der wohl am 2. Juni 1972 in Frankreich veröffentlichte "Les tueurs fous", der als belgischer Anwärter für die Oscars eingereicht wurde, aber ohne Nominierung ausging, verschwand hingegen weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis und macht eher als Geheimtipp die Runde.
Gleich zwei Merkmale des neuen Skandalkinos der frühen 70er Jahre vereint "Les tueurs fous" in sich: die direkte Darstellung ruppiger, kaltschnäuziger Gewalt einerseits, die unmissverständliche Thematisierung von Homosexualität andererseits. Er teilt sich mit dem Bond-Film "Diamonds Are Forever" (1971), dem Roadmovie "Vanishing Point" (1971) und auch noch dem späten satirischen Kriminaldrama "Autostop rosso sangue" (1977) das schwule kriminelle Pärchen; zu diesem Topos gesellten sich auch noch die kriminellen Crossdresser wie in "Freebie and the Bean" (1974), die in "Psycho" (1960) ihren Ursprung hatten, und die effeminierten oder schwulen Nazis, die bis "Roma, città aperta" (1945) zurückreichen, aber vor allem von "La caduta degli dei" (1969) bis "Salon Kitty" (1976) reichen: das Queere schien pathologisch und bot sich für Bedrohungsszenarien an, zumal es ja als tatsächliche Bedrohung traditioneller Geschlechterbilder empfunden wurde. Mit der Gegenkultur um 1968 öffnete sich für den Mainstream bloß eine Liberalisierung hinsichtlich der Darstellbarkeit vermeintlicher Perversionen, progressive Stoßrichtungen fanden sich eher abseits, im Underground, im politischen Essay- oder Agitationsfilm...
In diesem Fall handelt es sich bei dem kriminellen schwulen Pärchen um Hauptfiguren. (In ihrem Umfeld in entsprechenden Etablissements tummelt sich auch noch ein erwachsener Mann im wenig überzeugenden Schulmädchen-Look: eine tuntige Figur, wie sie ab den späten 60er Jahren gerne als Kuriosum, als Blickfänger genutzt worden ist: eher nicht positiv konnotiert, wenngleich auch nicht als kriminell präsentiert.) Ein junges schwules Paar steht im Mittelpunkt des Film: ein Paar, das sich auch gelegentlich verdingt und einem Freund, den man heute als Sugar Daddy bezeichnen könnte, seine Gewehre entwendet und flugs damit beginnt, recht unmotiviert Zufallsopfer zu erschießen und kleine Bargeldsummen an sich nehmen, um einen draufzumachen. Die Leichen fotografiert man, posiert neben ihnen wie neben Trophäen, später vergnügt man sich. Die Mordserie verläuft in der Mitleidlosigkeit, mit dem leicht sadistischen Vergnügen bestürzend ab, große Sympathieträger oder Identifikationsfiguren finden sich zudem kaum. Verzweiflung angesichts der ersten Tat kommt bei einem der Täter nachts auf; was genau in ihm vorgeht, bleibt unbekannt. Und einmal gibt es sogar eine Art mitleidige Beerdigung: da ist es dann aber eine Katze, die ihr Leben gelassen hat und der man bereitwillig Mitgefühl zollt; ein Indiz, dass nicht einfach die Täter durch und durch verkommen sind, sondern – zumal als Schwule – in der Gesellschaft keinen Platz gefunden haben.
Regisseur Boris Szulzinger, der später noch mit Picha den obszönen Trickfilm "Tarzoon, la honte de la jungle" (1975) und den erschreckend schwachen "Mama Dracula" (1980) drehte, bedient zwar problematische 70er-Jahre-Stereotype vom Schwulen, hat aber nicht unbedingt einen homophoben Streifen abgeliefert: Seine Antihelden sind nicht einfach dem Titel entsprechend verrückt, sondern auch dem englischen Titel entsprechend einsam. Es sind Einzelgänger mit wenigen Kontakten; mit Kontakten, die ihrerseits im Abseits leben. Sie leben in Tristesse und Perspektivlosigkeit; der Befreiungsschlag fällt entsprechend radikal aus. Der in Frankreich verwendete Titel "Le Sexe de la violence - Les tueurs fous" rückt zudem nicht die Homosexualität, sondern die Männlichkeit in den Blick: Wie später in Gasper Noés umstrittenem "Irreversible" (2002) oder in Catherine Breillats "Anatomie de l'enfer" (2006) ist der schwule Mann die absolute Zuspitzung von Männlichkeit, insofern die Figuren nicht nur männlich sind, sondern auch Männlichkeit begehren.
Als hochgradig kontrovers zu diskutierendes Kriminaldrama, mit dem Szulzinger seinen vermutlich besten Film abgeliefert hat, besticht "Les tueurs fous", der sich klar als Kind seiner Zeit zu erkennen gibt, noch heute. Die Wiederentdeckung lohnt sich also weiterhin...

Details
Ähnliche Filme